der rote faden : Vielleicht muss wieder mehr geführt werden
durch die woche mit
Nina Apin
Dass Sigmar Gabriel seine Rücktrittsbombe am Dienstag ausgerechnet durch eine Stern-Titelgeschichte platzen ließ, rührte mich als Printmedienschaffende schon ein wenig. Print’s not dead, selbst in Zeiten, in denen fast alle sich dem Nachrichtenschnellschleudergang von Twitter unterworfen zu haben scheinen! Für diesen letzten Gruß an die untergehende Zeitschriftenwelt der BRD (ich erinnere mich noch an die Montage, an denen ich versuchte, noch vor meinem Vater am Briefkasten zu sein, um als erste den neuen Spiegel rauszufischen – Munition für die Diskussionen in der Raucherecke) war mir der Unberechenbare aus Goslar fast sympathisch.
Als auf dem Nachhauseweg eine SMS von zu Hause kam, dass „endlich der Dicke weg“ sei, setzte ich innerlich zu einer Gabriel-Verteidigung an. Warum ihn wegen seiner Körperform verhöhnen, wenn man ihn wegen seiner Rüstungspolitik oder seiner Kohlefreundlichkeit auch fachlich kritisieren könnte?
Weil wir noch Joghurt brauchten, stieg ich erst mal am Hansaplatz aus. In dem modernistischen Hochhausquartier hat zwischen Läden und Imbissen der SPD-Abgeordnete Thomas Isenberg sein Wahlkreisbüro. Über Berlin-Mitte hinaus bekannt geworden ist der Gesundheitspolitiker dadurch, dass er Mitarbeitern einer Hilfsorganisation verbot, einmal die Woche auf dem Supermarktparkplatz warmes Essen an Obdachlose auszuteilen. Isenbergs Begründung: Die vielen Menschen, in der Mehrzahl aus Osteuropa stammende, die im angrenzenden Tiergarten campieren, seien eine Belastung für Gewerbetreibende und AnwohnerInnen.
Schon zuvor hatte der Sozialdemokrat unter dem Motto „Sicherheit und Sauberkeit am Hansaplatz“ zu einer AnwohnerInnenversammlung eingeladen. Der Tenor: Die Obdachlosen sollen da weg. Isenberg wollte Gewerbetreibende anschreiben und auffordern, den Obdachlosen keine Pfandflaschen mehr abzunehmen. Selbst die Polizei, die keinen Anlass sah, den Hansaplatz zum „gefährlichen Ort“ zu erklären, war da gelassener. Isenberg aber ist das anstehende 60. Jubiläum der Weltkulturerbe-Siedlung offenbar so wichtig, dass er eine Verdrängungspolitik befürwortet, die weder Anzahl noch Probleme der Obdachlosen vom Tiergarten vermindert. Zu Recht kriegt er dafür jetzt massiven Gegenwind.
Mittwochfrüh, ich schüttete gerade den im obdachlosenfreien Supermarkt gekauften Joghurt übers Müsli, meldete das Küchenradio, dass der neue SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz die soziale Gerechtigkeit in den Mittelpunkt seines Wahlkampfs rücken wolle. Die SPD habe „den Führungsanspruch für diese Themen.“ Schulz werde der SPD einen „Energieschub“ verpassen, jubelte Vize Ralf Stegner. Und sprach vom Anspruch, das Land zu führen.
Das Land führen? Eine unglückliche Wortwahl, schon aus historischen Gründen. Aber auch, weil es an den Regierungsstil eines Mannes erinnert, der sich vorgenommen hat, sein Land wie eine Immobilienfirma zu führen. Bei Trump ist das natürlich Konzept. Aber warum sagen sie bei der SPD nicht einfach: regieren?
Obwohl: Vielleicht muss wieder mehr geführt und auch abgeführt werden, dachte ich. Zum Beispiel die selbst ernannten Druiden, die am Mittwoch – natürlich auch wieder bei uns in der Gegend – festgenommen wurden. Sie sollen Anschläge auf Polizisten, Asylsuchende und Juden geplant haben. Reichsbürger-Druiden? Himmel, wie viel Prozent der Bevölkerung hat eigentlich den Boden des Grundgesetzes schon verlassen und bewohnt irgend ein bizarres, vom Internet gefüttertes Paralleluniversum? Und warum wohnen eigentlich alle Irren bei uns im Viertel?
Am Donnerstag enthüllt „Kontraste“, dass der Berliner Weihnachtsmarkt-Attentäter Anis Amri offenbar sogar in der IS- Moschee bei mir um die Ecke gewohnt haben soll. Die Berliner Staatsanwaltschaft hatte die Überwachung des Extremisten eingestellt, mit der Begründung, er habe die Moschee nicht mehr besucht. Musste er ja auch nicht mehr, er war ja schon drin! Nur die Berliner wussten das nicht – weil sie vergessen hatten, Amris Personalbogen mit Erkenntnissen der Kollegen aus Nordrhein-Westfalen zu aktualisieren. Und weil man von der Polizeiwache gegenüber die Moschee fleißig videoüberwachte – leider aber keine Zeit hatte, die Aufnahmen auch auszuwerten.
Am Freitagabend ist bei uns immer Fernsehessen. Die Kinder schauen Kika, und wem die Sendung gerade zu blöd ist, blättert nebenher im Comicstapel auf dem Couchtisch. Aber, im Ernst: „Tim in Amerika“? Oder: „Miraculix, der Druide“? Vielleicht lese ich heute mal, um mich von den Geschehnissen der Woche zu reinigen: „Lucky Luke. Menü mit blauen Bohnen“.
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