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der eisverkäufer von FRANK SCHÄFER

Der Eisverkäufer in meinem Lieblingskino ist ein echter Buddhist. Der Weg ist das Ziel, sagt er sich jeden Abend aufs Neue, wartet die Langnese-Pause ab, kommt ruhigen, fast gemessenen Schrittes mit seiner Kühltasche durch die Seitentür und stellt dem unruhigen, nach den vielen miesen Werbefilmchen schon ziemlich an den Nägeln kauenden Publikum lächelnd seine Frage: „Möchte vielleicht jemand ein Eis?“ Es gab Zeiten, da hat er noch nicht „vielleicht“ gesagt, irgendwann aber muss ihm dieses sympathische Adverb tunlich erschienen sein, und seitdem hält er sich daran. Mit Recht! Er stellt also seine Frage: „Möchte vielleicht jemand ein Eis?“ Und er könnte eigentlich auch fragen: „Möchte vielleicht jemand einen nicht sehr intelligenten Spruch auf meine Kosten machen, der eigentlich nur einen Zweck hat, nämlich den, mich zu erniedrigen?“ Niemals würde er so fragen, denn er ruht tief in seinem Glauben, aber er könnte es tun, und keiner dürfte ihm einen Strick daraus drehen, denn eins steht ja fest: Ein Eis will nie jemand!

Nun, angesichts der schweren Zeiten auch und gerade in der Lichtspielbranche, die von den herabstürzenden Trümmern des 11. Septembers ja keineswegs verschont geblieben ist, muss ihn sein Chef vor einigen Tagen in sein Büro gebeten haben.

Er, der Kinobesitzer, habe es sich nicht leicht gemacht mit seiner Entscheidung. Aber so ginge es einfach nicht mehr weiter! Obschon er, der Eisverkäufer, dem Kartenabreißer durchaus jede nur erdenkliche Unterstützung zuteil werden lasse und anschließend auch schon mal bei der Endreinigung behilflich, überhaupt sich jederzeit nützlich zu machen geneigt sei, werde seine Mitarbeit nun nicht mehr länger benötigt. Es gehe dabei gar nicht gegen ihn persönlich, man müsse einfach sehen, wo man bleibe in diesen schweren Zeiten … Aber der Eisverkäufer bat noch um eine letzte Chance. Er bettelte nicht, er bat ruhig, fast gemessen um eine Chance. Er trage nämlich schon eine ganze Weile eine Idee mit sich herum. Nun gut, man sei ja kein Unmensch, und es gehe ja auch gar nicht gegen ihn als Person, man müsse einfach sehen, wo man bleibe … Ja, so wird es gewesen sein.

Gestern war ich wieder in meinem Lieblingskino. Es folgte nach viel zu vielen, kleinen miesen Werbefilmchen immer noch unabweisbar, als hätte das Gespräch der beiden gar nicht stattgefunden, die Langnese-Pause. Der Eisverkäufer kommt ruhigen, fast gravitätischen Schrittes mit seiner Kühltasche durch die Seitentür und stellt uns Nägelkauern lächelnd seine Frage: „Möchte vielleicht jemand – ein Bier?“ Für einen Moment kehrte Stille ein in meinem Lieblingskino. Aber dann ging auch dieser Moment der Einkehr vorüber – und eine schrille Stimme aus meiner Reihe fragte: „Haste kein Eis?“

Für einen Augenblick dachte ich, jetzt fällt er vom Glauben ab. Aber da kannte ich meinen Eisverkäufer schlecht. Mit einer Leichtigkeit, als wären Federn drin, nahm er seine Kühltasche und schwebte hinweg – hinweg durch die Seitentür – hinein in dieses unglaublich helle, warme, wunderschöne Licht …

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