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daumenkinoBilly Elliot – I Will Dance

Wenn man eine Pirouette tanzt, fixiert man mit den Augen einen Punkt, den es nach jeder Drehung wieder zu erreichen gilt. Man kommuniziert mit diesem Punkt, der eine Kamera sein kann – oder auch ein Mensch im Publikum. In der entscheidenden Szene von „Billy Elliot“ teilt der kleine Billy seinem Vater so mit, was ihm das Tanzen bedeutet.

Es war ein hartes Stück Arbeit. Ballett ist Arbeit. Genau das war Daddy (Gary Lewis) bis dahin nicht recht einsichtig. Sein Leben lang ist er wie alle in der nordenglischen Kohlestadt Durham in den Schacht gefahren. Jetzt befindet er sich im Streik, dem großen Bergarbeiterstreik von 1984. Jeden Morgen geht er vor die Werkstore, um die Streikbrecher mit faulem Obst zu bewerfen. Und sein Sohn? Tanzt Ballett.

Die 50 Pence von der Wohlfahrt, vorgesehen für den Boxunterricht, verschwendet für einen Sport, der nicht mal ein richtiger Sport ist. Es hat ihm wehgetan, seinen Sohn zwischen kichernden Tüllmädchen zu erblicken, er hat ihn als Schwuchtel beschimpft.

Aber Billy (Jamie Bell) hat es ihm gezeigt. Er hat schon mit dem Punching Ball eher getanzt als geboxt. Zu Hause hat er Fred Astaire imitiert. Jetzt wird er nicht nach Kohle buddeln, die keiner mehr haben will. Er wird tanzen. Postindustrielle Depression und Krise der Männlichkeit – schon „Brassed Off“ und „Ganz oder gar nicht“ fanden die wunderbare Lösung dieser Konflikte im Showbusiness. Ohne dabei auf geliebte Männerrollen wirklich zu verzichten. „Billy Elliot“ ist in der Konstruktion so radikal anders, dass der Film manchmal Angst zu haben scheint vor den eigenen sexual politics. Der 11-jährige Billy ist natürlich nicht schwul – sein Freund ist es. Billys Ballett mit seinen wilden Sprüngen und Drehungen ist so robust, dass er sich ohne seine Docs die Knöchel brechen müsste. In der wütendsten Tanzszene rennt er zu The Jam’s „A Town Called Malice“ durch seine Straße und tritt gegen Mauern und Tore, als wolle er die ganze verdammte Elendskulisse in Grund und Boden stampfen.

Der prächtige T-Rex-Soundtrack signalisiert keine geschlechtlichen Verwirrungen, sondern Billys pubertäres Ungestüm, der hier nicht zufällig mit Englands schwerstem kulturellem Umbruch seit dem Zweiten Weltkrieg kollidiert.

Während er sich aus der Welt tanzt, kämpfen die Alten eine verlorene Schlacht. London calling. Wo aber bleibt da die Komödie? Der Streik wird nicht durchdiskutiert. Es bleibt bei der Kindersicht auf die Dinge – mit den behelmten Bütteln kann man auch tolle Faxen machen. Zum klassischen feelgood movie wird „Billy Elliot“ durch den rotzfrechen Billy und sein breites Kinderlachen. Und durch seine ketterauchende Balletttrainerin (Julie Walters), die ihn zwar von Höherem träumen lässt, aber jede Sentimentalität mit Sarkasmus abwürgt. Erst als sich der Vater den Streikbrechern anschließt, um Billy das Vorstellungsgespräch bei den Snobs von der Royal Balett School zu bezahlen, ertönt noch einmal das Pathos der gedemütigten Working class. Manchmal muss ein Mann tun, was ein Mann tun muss. Und wenn es das letzte Mal ist. PHILIPP BÜHLER

„Billy Elliot – I Will Dance“. GB 2000, R.: Stephen Daldry. D.: Jamie Bell, Gary Lewis, Julie Walters u. a.

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