daumenkino: Harry meint es gut mit dir
Harry, der titelgebende Held aus Dominik Molls Film „Harry meint es gut mit dir“, ist von der Sorte Klassenkamerad, die man schon zwei Jahre nach dem Abitur vergessen hat. Doch 15 Jahre später tritt er plötzlich wieder in Erscheinung, auf der Toilette einer Autobahnraststätte.
Harrys freundliche Hartnäckigkeit ist scheinbar die eines Trottels, aber die Bestimmtheit seines Auftretens lässt schon früh Schlüsse auf eine schleichende Soziopathie zu. Das Zusammentreffen von Harry und Michel geschieht zu einem Zeitpunkt größter Anspannung. Die vorausgehende Autofahrt von Michel, seiner Frau Claire und ihren zwei Mädchen inszeniert Moll als Kammerspiel: Die hektische Montage zerstückelt die gereizte Kommunikation zu kurzen, rhetorischen Fragmenten. Die Bildsprache nimmt die familiäre Krise vorweg, in die Harry erst wie ein heiliger Samariter und später als Engel des Todes einbricht.
Regisseur Dominik Moll ist ein geschickter Strippenzieher: Gleich am Anfang umreißt er mit nur wenigen Sequenzen die Grundkonstellation seiner Psychogroteske. Später markieren Objekte, Gesten und Worte den Prozess des Umkippens, noch das kleinste Zeichen hat seine Funktion, alle Hinweise greifen perfekt ineinander und führen gradlinig zur Eskalation. Harrys auffälliges Interesse an Michels zwanzig Jahre alter Schulprosa und die verwirrende Erkenntnis, dass er sogar noch imstande ist, die Zeilen Wort für Wort aufzusagen, bilden den Auftakt für eine Verkettung wahnhafter und obsessiver Momente.
In „Harry meint es gut mit dir“ prallen zwei Wahnsysteme aufeinander. Harrys Altruismus nimmt minütlich pathologischere Züge an, während der zaghafte Michel langsam die Kontrolle über sein Leben abgibt. Michels Landhaus, in das er, seine Familie, Harry und dessen einfältige Freundin Prune sich für einige Tage zurückziehen, wird zum Schauplatz eines subtilen Psychodramas – irgendwo zwischen Bates’ Motel und Kubricks Hotel aus „Shining“.
Dass im französischen Kino nur die Literatur Erlösung versprechen kann, ist Molls ironische Paraphrase. In der Überwindung von Michels Schreibblockade liegen alle Lösungen der emotionalen, psychischen und mentalen Verklemmung. Die jedoch fordert Opfer. Und vor der Tür klafft menetekelhaft die gähnende Tiefe des Brunnenschachts wie die unergründliche Schwärze eines plagenden Unterbewusstseins, das darauf wartet, endlich zugeschüttet zu werden.
ANDREAS BUSCHE
„Harry meint es gut mit dir“. Regie: Dominik Moll. Mit Sergi Lopez, Laurent Locas u. a. Frankreich 2000, 117 Min.
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