das wird: „Ich stehe auf diesen Kontrast“
Die Singenden Balkone machen den verschrieenen Bremer Hochhaus-Ortsteil Osterholz-Tenever zum Brennpunkt der Kultur
Interview Lotta Drügemöller
taz: Herr Scheibe, gentrifizieren Sie Bremen-Tenever?
Mark Scheibe: Auf keinen Fall, wir zelebrieren es! Waren Sie schon mal bei den Singenden Balkonen? Der Hochhauskomplex am OTe-Zentrum wird zur Bühne. Wenn unsere Künstler auftreten auf den einzelnen Balkonen, im Licht der Scheinwerfer, ist das sehr berührend. Jedes Mal wieder, seit 2015 schon.
taz: Ich frage, weil Tenever eher als Brennpunkt gilt. Das Publikum auf Fotos vom Event wirkt aber bürgerlich.
Scheibe: Natürlich kommen mittlerweile auch Leute aus dem bürgerlichen Schwachhausen, die sonst in den Sendesaal gehen. Auch ein junges, urbanes Publikum wird angezogen. Aber es bleibt ein Volksfest. Alte Leute, junge Familien mit Kindern – ein großer Teil der Zuhörer kommt aus der Nachbarschaft. Ich glaube, die meisten von ihnen finden es schön, dass auch andere Bremer mal Tenever besuchen, dass der Bürgermeister da ist.
taz: Sie setzen auf Klavier und ein Streicherensemble – warum dieser Fokus auf Hochkultur?
Scheibe: Es soll so feierlich wie möglich sein. Wissen Sie, es kommt vor, dass ich in der Mensa an der Gesamtschule in Tenever esse. Das ist eine klassische Kantine, alles ist so ein bisschen hingeklatscht. Ich nehme aber eine Tischdecke mit und privates Silberbesteck, und mache es mir dort schön.
taz: Das klingt ein bisschen spleenig.
Scheibe: Ich schaffe einen eigenen Raum; ein Lebensgefühl. Aus dem gleichen Grund sitze ich in Tenever mit einem Streicherensemble. Ich stehe auf diesen Kontrast, der brutale Hochhauskomplex, die Betonarchitektur, wo keine Pflanze wächst – und dann spielt da ein Klavier und das Kammerensemble Konsonanz. Wir feiern Tenever, und wir tun das mit Stil.
Mark Scheibe
Jahrgang 1968, ist Komponist und Sänger. Zu seinen zahlreichen Projekten zählt auch die seit 2007 jährlich mit Schülern aus OTe realisierte Musikshow „Melodie des Lebens“.
taz: Ist das ein Kontrast oder ein Fremdkörper?
Scheibe: Eine Bereicherung. Für manche ist der Besuch einer Veranstaltung, die mit Hochkultur in Verbindung gebracht wird, sonst ausgeschlossen. Wenn ich Leute aus Tenever zu klassischen Konzerten einlade, freuen sich viele erst – aber dann kommen Bedenken, eine Art Scham: Man hat nichts anzuziehen, oder weiß nicht, ob man auffällt. Bei den Singenden Balkonen ist das anders: Die Schwachhauser sind dort die Gäste, die Menschen aus Tenever selbst sind die Gastgeber.
taz: Kommen auch die Künstler*innen aus der Nachbarschaft?
Scheibe: Ein paar Profis sind schon auch dabei. Aber ein Großteil der Sänger ist mit Tenever verbunden. Ein syrischer Singer-Songwriter, Bayati, wohnt ein paar Häuser weiter, die türkische Sängerin Suzan Zahide ist dort aufgewachsen. Dann gibt es noch zwei Chöre mit Kindern und Jugendlichen aus der Nachbarschaft. Yasar Kocas fällt mir noch ein, ein kurdischer Sänger, der im Stadtteil sehr engagiert ist. Er leitet dort ein Jugendcafé – viele junge Menschen werden wohl vor allem seinetwegen dabei sein.
taz: Sie selbst kommen nicht aus dem Stadtteil, oder?
Scheibe: Nein, ich war früher nie in Tenever unterwegs. Ich dachte, das ist asozial, das lohnt sich nicht. Wie blöd. Das Projekt erweitert meinen Horizont, auch künstlerisch.
Konzert, 5. 9., Open Air, Bremen Osterholz, Ortsteil Tenever (OTe), Ludwigshafener Straße/Innenhof vor dem OTe-Schwimmbad, 19.15–21 Uhr
taz: Inwiefern?
Scheibe: Ich komponiere alle Arrangements fürs Streichquartett. Orientalische Musik hat dabei ganz andere Grundlagen als westlich geprägte. Mit den Maqamen gibt es Tonleitern, die auf Vierteltönen basieren. Das ist faszinierend für mich als Komponist.
taz: Sie arbeiten viel mit Laien – klingt das manchmal schräg?
Scheibe: Zum Glück sind unsere Künstler sehr gut. Außerdem lebt Gesang selten davon, dass er wahnsinnig präzise ist. Er muss unter die Haut gehen. Alle, die da auf den Balkonen singen, wollen etwas. Sie erzählen von ihrer Heimat, von berührenden Geschichten, singen in ihrer Muttersprache. Seit fünf Wochen arbeiten wir jetzt an den Songs. Eigentlich Wahnsinn: Alles wird geschenkt für diesen einen Abend an den Hochhäusern. Aber wenn dort am Ende die Sonne langsam untergeht, das ist auch einfach zauberhaft.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen