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das wird„Der einzige Ort mit Jiddisch als Amtssprache“

Tomer Dotan-Dreyfus liest aus seinem Roman „Birobidschan“

Interview Petra Schellen

taz: Herr Dotan-Dreyfus, worauf bezieht sich Ihr Roman „Birobidschan“?

Tomer Dotan-Dreyfus: Auf den gleichnamigen Ort an der russisch-chinesischen Grenze, in der Stalin in den 1930er Jahren eine jüdisch-sozialistische Autonomie aufbauen wollte.

War Stalin nicht Antisemit?

Ja, und vermutlich hatte die Aktion genau diesen Grund: Er wollte die jüdische Bevölkerung aus Moskau und Leningrad verdrängen und an die Peripherie bringen. Überraschenderweise – und untypisch für ihn – hat er niemanden zwangsweise dorthin deportiert, sondern massiv Propaganda betrieben, damit die Menschen freiwillig dorthin zogen.

Taten sie es?

Durchaus. In den 1960er-Jahren lebten dort bis zu 60.000 jüdische Menschen. Schon einige Jahre vor dem Zerfall der Sowjetunion – und verstärkt danach – wanderten aber viele nach Israel, Europa und in die USA aus. Heute leben dort 50.000 Menschen, es gibt jüdische Feste und Jiddisch in der Schule – aber kaum noch Jüdinnen und Juden. Es ist kein Zufluchtsort mehr. Das Experiment jüdisch-kultureller Autonomie ist gescheitert.

Woran?

Tomer Dotan-Dreyfus

35, Autor und Übersetzer, in Haifa geboren, studierte Komparatistik und Philosophie, lebt in Berlin.

Zum einen daran, dass es eine unwirtliche, sumpfige Gegend war, die man schwer urbar machen konnte – was die Menschen erst erfuhren, als sie dort waren. Zum anderen waren die Zuwanderer Stadtmenschen mit entsprechenden Berufen, keine Bauern. Und als sich ihnen in den 1990ern attraktivere Möglichkeiten boten, gingen sie.

Warm schreiben Sie über dieses historische Experiment?

Zunächst, um es in Erinnerung zu rufen. Ich selbst – in Israel aufgewachsener Jude – habe erst als Erwachsener davon erfahren, und niemand, den ich sprach, kannte es. Ich vermute, dass man in Israel auch politikerseits nicht gern an dieses Scheitern erinnert. Hinzu kommt, dass die hebräischsprachige Leitkultur in Israel alle anderen jüdischen Sprachkulturen unterdrückt.

Auch das Jiddische?

Ja. Dabei ist das Jiddische die größte jüdische Sprachgemeinschaft. Aber ihre SprecherInnen mussten sich bei der Gründung des Staats Israel das Hebräische aneignen. Das betraf auch meine Großeltern, die ursprünglich in der jiddischen Kultur zu Hause waren und mit mir kein Jiddisch sprachen, weil sie sich schämten. Ich habe diesen besonderen Ort, Birobidschan, benutzt, um einen Roman über die jüdisch-jiddische Kultur zu schreiben.

Autoren­lesung, Kammerspiele, (Logensaal) Hartungstr. 9–11, Hamburg, 19.30 Uhr

Was macht den Ort für Sie besonders?

Birobidschan ist bis heute der weltweit einzige Ort mit Jiddisch als Amtssprache. Das ist für mich ein Widerspruch in sich. Für mich ist Jiddisch die ultimative diasporische Sprache, mit der Juden aus verschiedenen Teilen Europas kommunizieren können. Birobidschan, wo eine migrantische Sprache Amtssprache ist, ist ein Un-Ort, ein fiktiver Ort – und als literarischer Stoff sehr reizvoll.

Worum geht es im Roman?

Es ist eine Folge von Episoden, die sich zu einer Erzählung zusammenfügen. Sie spielt in einer idyllischen Stadt, die durch einen Mord ins Chaos geworfen wird. Misstrauen macht sich breit. Die Gemeinschaft versucht zusammenzuhalten, aber das ist nicht leicht, denn es gibt da noch den bösen Erzähler. Er sagt: „Das ist für mich ein Labor. Ich werde einen Charakter hinzufügen und schauen, wie die anderen Figuren reagieren.“ So treibt der Erzähler den Zerfall der Gemeinschaft voran. Das ist über weite Strecken realistisch erzählt, aber irgendwann merkt man: Hier stimmt etwas nicht, und man gerät in Zweifel darüber, ob es ein göttliches Eingreifen gibt oder nicht. Ganz im Sinne des magischen Realismus der jiddischen Erzähltradition.

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