das ding, das kommt: Cross-Schlag in die Urne
Wenn der Ring zur Wahlkabine wird, ist das natürlich ein idealer Ort, um diese Damen und Herren Europa-Politiker*innen in Straßburg, Brüssel und Genf mal so richtig abzuwatschen: Angriffslustig mit den Briefwahlunterlagen wedelnd rein in den Box-Keller der legendären Kneipe „Ritze“ auf der Hamburger Reeperbahn. Kurz mit den Fingergelenken geknackt, den Stift in die Faust genommen, einen sauberen Cross-Schlag ins entsprechende Kästchen gesetzt und, zack!, mit einem kräftigen Rechtsausleger die Stimme voll in die Wahlurne gesemmelt, dass den Abgestraften ganz schwindelig wird.
Der Trend geht ja weiterhin dahin, beim Wählen zum Schlag gegen den politischen Gegner auszuholen: Einer kürzlich veröffentlichten europaweiten Bertelsmann-Umfrage unter mehr als 20.000 Wahlberechtigten zufolge wollen viele die Entscheidung, wo sie bis zum 26. Mai ihr Kreuzchen machen, diesmal ausdrücklich an der Zurückweisung von Parteien ausrichten. Und mobilisiert zeigen sich bislang auch eher die „Europakritiker*innen“, also nicht selten: die mehr oder weniger erklärten Europafeind*innen.
Anhänger*innen der traditionellen Zustimmungswahl, die sich also auch im gewählten Gremium eine harmonische Polyphonie wünschen, geben ihre Stimme vielleicht lieber dort ab, wo sie laut und glasklar zu Gehör gebracht werden kann: in der Elbphilharmonie. Genauer: direkt auf der Bühne – auch hier ist selbstverständlich noch ein politischer Paukenschlag möglich.
Noch eine Möglichkeit, seine Stimmabgabe diesmal zum unvergesslichen Event zu machen, bietet diese von Prominenten wie dem unvermeidlichen Matthias Schweighöfer und Unternehmen wie der Digitalagentur Elbkind unterstützte Erlebnismarketingaktion „Say yes to Europe“ in Hamburg an: im „Epizentrum der Nachrichten“, das die Initiator*innen offenbar nicht in den Redaktionsräumen der taz nord vermuten, sondern ausgerechnet im Newsroom des Stern – selbstredend nebst kostenlosem Eintritt zur im Gruner+Jahr-Foyer stattfindende World-Press-Photo-Ausstellung.
Im weiteren Bundesgebiet stehen zumindest noch Wahlkabinen in der Umkleidekabine des BVB in Dortmund, im Lufthansa Aviation-Trainingszentrum in Frankfurt am Main und im Fernsehstudio von „Wer wird Millionär?“ in Hürth bei Köln bereit.
Um demokratische Willensbildung scheint es den Erlebniswahlveranstalter*innen aber dann doch vielleicht nur so en passant zu gehen. Die Möglichkeit, die Zusammensetzung des Europäischen Parlaments mitzubestimmen, sei „ziemlich cool“, schreiben sie auf der Internetseite www.sayyestoeurope.de – und die traditionell geringe Wahlbeteiligung natürlich „weniger cool“.
Dass Letztere aber nun ausdrücklich „nicht mit erhobenem Zeigefinger“ in die Höhe getrieben werden soll, indem die „Briefwahlunterlagen zur Eintrittskarte für Orte“ werden, „an die du schon immer wolltest, aber normalerweise nie kommst“ – „exklusive Orte“ eben – entpuppt sich dann doch als ziemlich laue Marketingsause der beteiligten Institutionen.
Die Elphi ist natürlich, das ist ja das Kreuz mit diesem „für jeden das Beste – exklusiv für alle“ (Elphi-Werbung), eh schon längst wieder ausgebucht. Nur im Ritze-Boxring sind noch Plätze frei. Schlagen Sie also schnell zu, bevor es der Gegner tut! Robert Matthies
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen