crime scene: Das Mädchen mit der Schrotflinte
Ámbar ist fünfzehn Jahre alt und ihr kostbarster Besitz ist eine Schrotflinte mit abgesägtem Lauf – ein Geschenk ihres Vaters Víctor. Eine normale Kindheit hat sie nie gehabt, denn da Víctor aufgrund seiner vielfachen Tätigkeiten als Gangster, Drogendealer und Killer nie lange an einem Ort bleiben kann, sind sie nirgendwo heimisch geworden. Die Mutter hat sich vor langer Zeit aus dem Staub gemacht. Als der Roman beginnt, hat Ámbar sich gerade in ihrer aktuellen Schule gut eingelebt, da geraten der Vater und sein bester Freund in einen Hinterhalt. Der Freund stirbt, und Víctor macht sich auf den Weg quer durch den Norden Argentiniens, um den Mörder zu suchen und blutig Rache zu üben. Und Ámbar muss wie immer mit.
In Ich-Perspektive erzählt Nicolás Ferraro diesen als schräges Roadmovie beginnenden Thriller sehr glaubhaft aus Sicht der jugendlichen Protagonistin, die in vieler Hinsicht vor ihrer Zeit erwachsen werden musste und nicht nur mit Waffen umgehen kann, sondern auch weiß, wann sie ihre knospenden körperlichen Reize einsetzen sollte, um die Aufmerksamkeit potenzieller Feinde von ihrem Vater abzulenken. In anderer Hinsicht ist sie aber noch ganz Kind und abhängig von dem, was Víctor unter väterlicher Fürsorge versteht. Viele Stunden verbringt sie allein in schäbigen Hotelzimmern und wartet darauf, dass irgendwann ihr trotz allem geliebter Papá von wo auch immer zurückkommt und vielleicht sogar etwas zu essen mitbringt. Fast immer ist es nur ein belegtes Sandwich.
Aber alles ändert sich, als sie sich in einem abgelegenen Ort und in einem heruntergekommenen Haus einquartieren, an das Ámbar sich dunkel aus früher Kindheit erinnert. Nun bleibt der Vater tagelang verschwunden und die Tochter erlebt ein paar eigene Abenteuer extrem unterschiedlicher Art. Wie ein ganz normaler Teenager verliebt sie sich in einen Jungen, erfährt ein paar sehr wichtige Dinge über ihren Vater und hat eine lebensbedrohliche Begegnung, von der sie Víctor nichts erzählen wird, um nicht in einem vermeintlich sicheren Hotelzimmer eingeschlossen zu werden. Wenn es am Ende zu einem Showdown kommt, bringt die große Abrechnung einige Überraschungen mit sich – vor allem für die Ich-Erzählerin, deren endgültiger Abschied von der Kindheit damit besiegelt ist.
Nicolás Ferraro: „Ámbar“. Aus dem Spanischen von Kirsten Brandt. Pendragon Verlag, Bielefeld 2025, 280 Seiten, 22 Euro
Das Besondere an diesem Roman ist nicht einmal sein perfekter Spannungsaufbau, das können viele. „Ámbar“ ist weit mehr als Spannungsliteratur, weil es Nicolás Ferraro seltsamerweise gelingt, einen ziemlich brutalen Action-Thriller (manche nennen das „noir“) mit einer einfühlsam geschriebenen Coming-of-Age-Geschichte zu amalgamieren. Das muss man erst mal schaffen. Trotz aller Sensibilität bei der Gestaltung der Erzählperspektive aber mag die Lektüre für manch zartbesaitete Naturen vielleicht eher weniger geeignet sein. Wenn dieser Roman irgendwann verfilmt werden sollte – und dazu eignet er sich sehr gut –, wird die Requisite jedenfalls größere Mengen an Theaterblut, Gummi-Hirnmasse und künstlichen ausgeschlagenen Zähnen bereithalten müssen.Katharina Granzin
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