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crime sceneDer König des Grauens in Neukölln

Es wäre interessant zu wissen, was genau Jesús Cañadas wohl genommen hat, während er dieses Buch schrieb. Oder lässt sich eine so finstere Phantasmagorie ausschließlich unter Einsatz körpereigener Drogen entwickeln? Es ist der pure Horror, der in diesem Roman Einzug hält in Berlin-Neukölln; aber so irre gut geschriebener Horror, dass man schon sehr tief hineingezogen worden ist in die Geschichte, bevor man merkt, worauf man sich eingelassen hat. Denn lange Zeit gibt der Autor vor, einfach nur einen Thriller zu schreiben, einen Polizeiroman mit ein paar harten Typen und einem nicht ganz durchschaubaren Ich-Erzähler.

Dieser erste Erzähler – er wird nämlich nicht der einzige bleiben, aber mehr kann nicht verraten werden – heißt Lukas Kocaj und ist Polizist in Neukölln. Eigentlich ist er, wie es an einer Stelle heißt, „ein guter Junge“, aber total verkorkst, hat sich oft nicht im Griff und ein Gewaltproblem. In seiner nach Krankheit stinkenden Wohnung liegt sein an Krebs sterbender Vater, und in der Kammer nebenan, wo Lukas immer trainiert, hat sich seine Mutter einst erhängt. Was genau in der Familie vorgefallen ist, bleibt vage, aber aus dem Kontext lassen sich Schlüsse ziehen.

Zusammen mit einem älteren Kollegen von zweifelhaftem Ruf wird Lukas Kocaj einem Vermisstenfall zugeteilt: Aus einem katholischen Mädcheninternat in Berlin-Rudow ist ein Teenager verschwunden. Die 16-jährige Rebecca war erst kurz zuvor nach Berlin gezogen, nachdem sie in ihrer alten Schule von Mitschülern misshandelt worden war. In ihrem Zimmer finden sich eine Blutlache und ein ausgerissener Zahn. Indizien führen die Polizisten zu einem Wohnheim für Geflüchtete, einer okkulten Spezialbibliothek und einem Club, in dem das Nachtleben sehr eigenartige Züge annehmen kann und in dem Lukas Kocaj zum ersten Mal eine grauenerregende Erscheinung hat. Gibt es ihn wirklich, den König mit der seltsamen Krone und der langen Halskette aus menschlichen Zähnen? Oder ist er nur eine Ausgeburt von Kocajs Ketaminrausch?

Das Grauen steigert sich. Was scheinbar als eine Art Kiezroman begann – der Autor kennt sein Expat-Hipster-Neukölln zweifellos in- und auswendig –, durchläuft eine unheimliche Metamorphose. Die Wahrnehmungsgrenzen zwischen Realistischem und Phantastischem verschwimmen immer mehr, bis eine Welt übrig bleibt, in der es eine alles beherrschende Kraft gibt: jenen König des Grauens, der eine Gestalt gewordene Metapher für alle Gewalt ist, die Männer Frauen antun. Oder gibt es eine Person, die ihn stoppen kann …?

Obwohl Extremformen von Gewalt das Thema dieses Romans sind, gerät er nicht in die Nähe jener fragwürdigen gewaltpornografischen Faszination am äußersten Schmerz, mit der viele Thrillerautoren beim Lesepublikum punkten. Der Horror tritt bei Cañadas in so grotesker Erscheinungsform auf, dass er märchenhafte Züge trägt – wenngleich es sich um ein drastisches Schauermärchen handelt.

Jesús Cañadas: „Am Anfang ist der Tod“. Aus dem Spanischen von Verena Kilchling. Suhr­kamp, Berlin 2023. 440 S., 17 Euro

Auch der katholisch-südeuropäische Background des Autors spielt eine Rolle, denn zweifellos haben die krass blutüberströmten Jesusdarstellungen, die man in katholischen Kirchen finden kann, für manche Szenen visuell Pate gestanden. Katharina Granzin

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