crime scene: Die toten Mütter und die furchtbar hilflosen Männer
Das furchteinflößendste Buch des Jahres“, ein Zitat aus einer Besprechung der Washington Post, hat der Verlag als Lockparole auf das Buchcover drucken lassen. So was ist immer ein bisschen schräg, denn wie ist der Mensch denn drauf, wenn es als Werbung gilt, Leuten prima Angst machen zu können? Auf jeden Fall belegt das Zitat ein Bedürfnis – von Seiten des Verlags, aber auch der unbekannten Rezensentin –, diesen Roman mit irgendeinem Superlativ zu versehen. Und man kann dieses Bedürfnis gut verstehen. Allerdings ist „furchteinflößend“ wohl eigentlich nicht das richtige Attribut. Aber welches wäre es dann? Das „spannendste“ Buch? „Der Wille zum Bösen“ ist sehr spannend, auf jeden Fall, aber das sollten Thriller ja wohl grundsätzlich sein. Und ehrlich zu schreiben: „das deprimierendste Buch des Jahres“? Schwer vorstellbar, dass irgendjemand es dann noch kaufen würde.
Auf jeden Fall kriecht dieses Buch einem enorm unter die Haut. Oder einer. Für männliche Leser muss es allerdings ungleich schlimmer sein, denn letztlich ist es eine sehr, sehr finstere Erzählung über Väter und Söhne. Frauen kommen am Rande darin vor – und auch die sind nicht alle gut, stark und klug –, aber es ist nur allzu klar, dass sie nicht schuld sind am Zustand der Welt, so wie sie hier geschildert wird. Die Männer tragen die Hauptschuld. Und gleichzeitig können sie einem leid tun, denn sie sind in einem teuflischen Kreislauf der Nichtkommunikation gefangen.
Der Psychologe Dustin hat seine Frau verloren; sie ist sehr schnell gestorben an einer zu spät erkannten Krebserkrankung. Ohnehin von labiler Natur, beginnt Dustin zunehmend den Bezug zur Realität zu verlieren. Als ein Patient von ihm, ein ehemaliger Cop, ihn mit der fixen Idee konfrontiert, in einer Reihe von Todesfällen unter ertrunkenen jungen Männern eine Mordserie entdeckt zu haben, sieht Dustin zu Beginn noch das Wahnhafte in den Konstruktionen des anderen. Doch sein rationaler Widerstand bröckelt immer mehr. Ungefähr zur gleichen Zeit wird sein ehemaliger Adoptivbruder als unschuldig aus dem Gefängnis entlassen, den Dustin selbst einst als 13-Jähriger mit einer unbewussten Falschaussage dort hineingebracht hatte.
Dustins jüngerer Sohn Aaron indes, der noch zu Hause lebt, beginnt nach dem Tod seiner Mutter Heroin zu spritzen. Als ihn der aus dem Gefängnis entlassene Onkel kontaktiert, denkt Aaron sich nichts dabei, denn er weiß nicht, dass sein Vater den Onkel beschuldigt hatte, seine Eltern ermordet zu haben. Dann wird Aarons bester Freund – auch dessen Mutter ist gerade gestorben (!) – tot aufgefunden …
Manche Teile werden aus Dustins Perspektive erzählt, manche aus Aarons, andere steuern die Sichtweise der einen oder anderen Nebenfigur bei. Was dabei entsteht, ist eine irre Audiothek einsamer Selbstgespräche. Kommunikation zwischen diesen Männern ist nicht möglich, jeder steckt in seiner Blase fest oder schwebt in drogeninduziertem Bewusstseinsnebel. Eine lückenhafte Syntax und ein experimentelles Layout unterstützen auch äußerlich den Eindruck von Dissoziation und existenzieller Verlorenheit. In einer Welt, da alle Mütter tot sind, gibt es nichts mehr, das diese furchtbar hilflosen Männer vor dem Bösen schützt. Ja: Dieser Roman ist zweifellos toll geschrieben. Aber eben auch: superfinster. Kurz: das deprimierendste Buch des Jahres!
Dan Chaon: „Der Wille zum Bösen“. A. d. Englischen von Kristian Lutze. Heyne Verlag, München 2018. 624 S., 14,99 Euro
Katharina Granzin
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