christoph schultheis : Total konträr!
Unglaublich, dass Leser so genau lesen. Beziehungsweise: so ungenau
Neulich abends in der Umkleide einer Westberliner Trendsporthalle. Zwei Sportsfreunde stehen vor ihren Spinden. Der eine blond, in Unterhose, Socken, Badelatschen, der andere bereits in Hemd und Jeans. Studenten?
Sagt der eine: „Hast du heute die Berliner Zeitung gelesen?“ „Nö“, sagt der andere. Es war Mittwoch. „Das war total konträr!“, sagt der in Socken: „Da hat der Chefredakteur einen Kommentar zum CDU-Parteitag geschrieben, der war richtig pro Merkel: wie toll ihre Rede war, eine Ruck-Rede und so. Aber alle anderen Artikel in der Berliner hatten dazu voll die Gegenmeinung!“
Irgendwie rührend, diese kleine Szene. Finden Sie nicht? Der Augenzeuge jedenfalls war überrascht. Vielleicht auch beschämt, die Zeitungsleser bislang viel zu pragmatisch eingeschätzt zu haben. Was die sich für Gedanken machen. Mal was anderes eben, dachte der Augenzeuge.
Und doch nicht alles. Denn im Nachhinein ließ sich die rätselhafte Medienbeobachtung, die der junge Leser für so erwähnenswert befunden hatte, in der Berliner Zeitung beim besten Willen nicht wiederfinden: Es gab einen Parteitags-Leitartikel, ja, „pro Merkel“ meinethalben. Aber nicht vom Chefredakteur. Außerdem war der Text harmonisch eingepasst in die Berichterstattung drum herum. Was jetzt? Hatte unser Sportsfreund die Zeitung verwechselt? Doch auch in Tagesspiegel und B.Z. hatten die Chefredakteure anderen das Kommentieren überlassen. Mag sein, in der Berliner Morgenpost stammte die Parteitagsmeinung zur „Königin von Leipzig“ vom Vizechef Johann Michael Möller. Und weiter? Immerhin stand das mit dem „Ruck“ tatsächlich in der Zeitung. Allerdings in der Süddeutschen, am Vortag.
Nein, nein, es war offensichtlich kompletter Unsinn gewesen, was der Sockenmann in der Umkleide loswerden wollte. „Hm“, hatte der andere darauf gemurmelt und den Raum verlassen.