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cannes cannes„Moulin Rouge“, Blumenkinder und 68er-Positionen

Unmoralische Angebote

Im Pariser „Moulin Rouge“ sitzen jeden Abend Busladungen von Touristen vor Pailletten-BHs und Pfauenfedern, die zu einer merkwürdigen Mischung aus Kaufhaustechno und Cancan wippen. 300 Franc, inklusive Billigchampagner.

Nun hat der australische Filmregisseur Baz Luhrmann aus dem Abzockerlokal mit den blinkenden Windmühlenflügeln den mythischen Geburtsort der modernen Popkultur gemacht. Nicole Kidman als schwindsüchtige Kurtisane und Ewan McGregor als verliebter bettelarmer Poet, die ihre Liebe in einem Musical gegen die Finanz- und Erpressungsmacht eines sexbesessenen Grafen verteidigen – das ist „La Bohème“, Woodstock, Warhols Factory und „La Traviata“ in einem. Es geht um die Errettung der Kunst durch eine opferbereite Sünderin, um Freiheit, Wahrheit, Selbstbestimmtheit und Liebe. Wenn sich Kidman und McGregor in einer endlosen Liebesszene mit Zitaten aus berühmten Lovesongs anträllern, entsteht bei Luhrmann tatsächlich so etwas wie ein Kurzschluss zwischen den children of love der Belle Epoque und ihren Enkeln aus den späten Sixties. „All you need is love“, das war bei den Blumenkindern des 19. Jahrhunderts auch nicht anders.

In seinem durchgeknallten Eröffnungsfilm surft Luhrmann quer durch die Geschichte des Popsongs, von Marilyn über die Beatles, Elton John, Bowie, U 2 und Curt Kobain bis zu Madonna. Cat Stevens untersagte allerdings die Verwendung eines seiner Songs, weil er sich als Muslim nicht mit dem frivolen Thema anfreunden konnte.

Manchmal fehlt Luhrmanns wildem, tingeligem Potpourri der Rhythmus, und so ganz haut es auch nicht hin, wenn die dürre Nicole Kidman als strassbesetzte Queen des Pariser Sündenpfuhls versucht, den Cancan neu zu erfinden. Aber „Moulin Rouge“ ist einfach zu sympathisch, zu infantil und besteht aus zu viel buntem Papmaché, um richtig schlecht zu sein. In ihrer Spezialausgabe zu den Filmfestspielen verlieren die Cahiers du Cinéma über „Moulin Rouge“ übrigens bezeichnenderweise kein einziges Wort. Das halbseidene Spektakelkino wurde in dieser Zeitung, die sich in ihrem Selbstverständnis bis heute als intellektuelle Waffe begreift, seit je als industrielles Vergnügungsprodukt auf den hinteren Kurzspalten abgetan.

Sei's drum. In Cannes feiern die Cahiers du Cinéma ihren fünfzigsten Geburtstag – unter anderem mit einer Sondervorführung von Edgardo Cozarinskys Film „Le Cinéma des Cahiers“. Auch Gelegenheit, über die Identitätsprobleme zu reden, unter denen das Blatt in den letzten Jahren unnübersehbar leidet. Der 1951 von einer kleinen Gruppe um André Bazin begonnene Kampf, mit dem Ziel, das Kino in den Kanon der Kultur einzuverleiben, hat sich längst erübrigt, geisteswissenschaftliche Strömungen wie Strukturalismus, Semiotik oder die marxistisch-leninistischen Positionen von 68, an denen sich die Cahiers gerne abgearbeitet haben, liegen nicht in der Luft, und seit der Übernahme durch Le Monde versucht man sich an einer etwas selbstquälerischen Popularisierung.

Vielleicht sollten sich die festivalmüden Cinephilen aus der Rue Boule-Blanche einfach wieder ein wenig auf ihre Ursprünge bzw. auf André Bazin beziehen. Für den hatte Cannes in einem Text von 1952 nämlich die theologische Funktion einer „Glorifizierung“ des Kinos. Wobei der Besuch von Randveranstaltungen genau bedacht sein will: „Es wird immer etwas Unmoralisches haben, den Whisky der amerikanischen Empfänge zu trinken, das eingelegte Gemüse der ägyptischen Cocktails zu essen und am nächsten Morgen einen Film aus diesen Ländern in den Schmutz zu ziehen.“ Für die Filmparty zu „Moulin Rouge“ hat die 20th Century Fox am Hafen von Cannes eine gigantische Nachbildung des Windmühlenlokals aufstellen lassen. Eintausend geladene Gäste und DJ Fat Boy Slim. Da wird die Knapper- und Schlürfmoral gleich mächtig auf die Probe gestellt. KATJA NICODEMUS

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