■ bücher.klein: Heimat-Los
Es gibt Bücher, von denen man seit Jahren hofft, daß sie endlich geschrieben werden. Entsprechend sind die Erwartungen. Vielleicht ist das der Fehler an dem kleinen Buch von Kemal Kurt. Kurt ist in der Türkei aufgewachsen und lebt seit 20 Jahren in Deutschland. Wer könnte besser beschreiben, was der Untertitel des Buches verspricht: „Bilder eines türkisch-deutschen Doppellebens“. Wer könnte besser erklären, was Immigranten am Fließband oder nichtdeutsche Putzfrauen nur schwer artikulieren können, was man aber gern verstehen möchte: Wie es sich lebt und fühlt mit einer doppelten Heimat – einer in der Vergangenheit mit der magischen Kraft der Kindheitserinnerungen und einer in der Gegenwart, die zwar die Macht des Alltags besitzt, aber auch all ihre Schrecklichkeit, Mühsal, Banalität.
Wie jedes Jahr verbringt Kemal Kurt seinen Urlaub mit der Familie in der Türkei. Dieses Mal verspricht er, seine Leser mitzunehmen in die Feriensiedlung Aytepe. Kemal Kurt beschreibt seine Ankunft, seine Beobachtungen, seine Erinnerungen – und da, wo er in seine eigene Geschichte zurückgeht, folgt man ihm neugierig auf der Suche nach dem Schlüssel zu dieser Heimat. Doch dann geht die Tür wieder zu. Kemal Kurt traut sich nicht, sie zu öffnen – vielleicht weil er spürt, daß er einfach nicht die literarische Kraft besitzt, zu beschreiben, was ihn daran bis heute fasziniert und auf geheimnisvolle Weise immer zu Hause fühlen läßt. Er weicht aus in seitenlange historische Exkurse, greift unvermittelt in das Zitatenkästchen der Weltliteratur und verläuft sich in seichten Urlaubsschilderungen.
Seite um Seite wartet man, daß etwas kommen müßte, was die schöne Titelfrage „Was ist die Mehrzahl von Heimat?“ berührt. Doch dann ist Kemal Kurts Urlaub auch schon vorbei und das Buch jäh zu Ende. Die eine Heimat hat er uns nicht sehr viel nähergebracht, als wir sie, mit fremden Augen, selber hätten sehen können. Die andere wird einem unwirtlichen Eisberg gleich, auf den der Pendler zwischen den Heimaten aus unerfindlichen Gründen zurückkehren will. Je näher die Abreise rückt, je dichter das Ende des Buches, desto plakativer und kraftstrotzender das Gegenteil von einer Antwort: Warum? Fragen die Nachbarn in Aytepe: Kehrst du in dieses Land zurück, wo sie euch und eure Häuser anzünden? Statt einer Erklärung folgt eine Auflistung: „Aus Nachbarn werden Mörder. Aus Wohnhäusern Bunker. Überall.“ Auch nach 20 Jahren, schreibt Kurt, „bin ich blinder Passagier auf der MS Deutschland geblieben. Ich kann alles sehen, darf mich aber nicht blicken lassen“. Starke Worte! Und reichlich selbstmitleidig, das melancholische Schicksal der eigenen Heimatlosigkeit. Vera Gaserow
Kemal Kurt, „Was ist die Mehrzahl von Heimat“, rororo aktuell, 12,90 DM
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen