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bücher für randgruppenPlaudern mit dem Nervenarzt von Antonin Artaud

Ein Beruhigungsmittel!

„Und was ist ein wahrer Geisteskranker? Das ist ein Mensch, der es vorgezogen hat, verrückt zu werden, im gesellschaftlichen Sinne des Wortes, statt eine bestimmte höhere Vorstellung von menschlicher Ehre zu verletzen.“ Antonin Artaud

Gern spricht der französische Literaturwissenschaftler und Verleger der Semiotexte Sylvère Lotringer mit Menschen. Mit Heiner Müller beispielsweise und Paul Virilio, in „Der reine Krieg“, einem langen Dialogband. In „New Yorker Gespräche“ (Merve Verlag) plaudert er mit Musikern, Schriftstellern und Theaterleuten wie Bob Wilson, Philipp Glas, William Borroughs. Er spricht mit ihnen über ihre Produktionsweisen und entwickelt beim Gespräch seine Theorie. Sie stellt sich sozusagen von selbst ein. „Er hat immer ein Sony-Gerät dabei“, sagt Heidi Paris vom Merve Verlag auf Rückfrage und schmunzelt durch die Telefonleitung. Und zudem hat sich Sylvère Lotringer ausführlich damit beschäftigt, wie die Theorien der französischen Philosophen die amerikanische Kunstszene beeinflusst haben, davon handelt sein Buch „Kunst in den Zeiten der Theorie“, und davon findet sich einiges in seiner Zeitschrift Semiotexte, die mittlerweile Kultstatus genießt.

Nun spricht er mit dem Nervenarzt von Antonin Artaud, Dr. Jacques Latrémolière. Antonin Artaud, der Erfinder des Theaters der Grausamkeit, bot schon immer eine wunderbare Projektionsfläche für Schauspieler, die so echt sein wollen, dass man ihnen ihr Schauspiel gar nicht anmerkt. Dabei sind nicht Schauspieler gemeint, die in einem Film die Rolle eines schlechten Schauspielers so gut verkörpern, dass sie anschließend keine Angebote mehr erhalten, sondern mehr die Ausgabe, die gemeinhin mit dem Wort „Genialität“ in Verbindung gebracht werden möchte, mit starkem Ausdruck und heftigster Gemütsbewegung, ja mit Wahnsinn und Rausch.

Das, was manchem frustrierten Maler ein müder Trost für die Ungerechtigkeit der Welt ist, nämlich das abgeschnittene Ohr von van Gogh (obwohl es ja eigentlich nur ein Ohrläppchen war), sind dem enttäuschten Schauspieler die Elektroschocks, die Artaud in der Psychiatrie verpasst bekam. Artaud ist furchtbar pathetisch, unerträglich geradezu, und zelebriert doch einen sehr schönen Gottesdienst mit einer ausgefeilten Liturgie. Langweilig ist das jedenfalls nicht, eher humorlos und dabei doch spannend, einzigartig. Und irgendwie ist es ja auch überaus trostreich, einen Menschen zu wissen, der sich scheinbar überhaupt nicht angepasst hat beziehungsweise es nicht konnte.

Lange schon ist er tot, seit 1948, die Mythen wabern, und da war es eine ganz wunderbare Idee von Lotringer, den Nervenarzt nach seinem ehemaligen Patienten zu befragen. Denn Artaud als Patient stellt seinen Doktor natürlich nicht gerade in ein vorteilhaftes Licht, sondern bezichtigt ihn offensichtlich der Komplizenschaft mit der Gesellschaft, ihren Verlogenheiten und Kompromissen. Die Streitigkeiten um Artauds Erbe, mit denen dieser hübsch anzuschauende kleine Band einleitet, geben einen interessanten Einblick in diese Strukturen und Konventionen, die Artaud selbst so vehement in Frage stellte oder in religiösem Wahn ins Absurde trieb. Es wäre aber zu einfach, den ebenfalls religiösen Nervenarzt Latrémolière als Vollstrecker grausamer Auftraggeber zu beschreiben. Artaud bezeichnet ihn in seiner qualvollen Situation als Freund, den er bittet, die Elektroschockbehandlung sofort zu beenden, da er sonst aus seinem Herzen verschwände. Er schauspielert hier wahrhaft um sein Leben, der erleuchtete Patient mit dem rechthaberischen Arzt. „Als ich mit Dr. Latrémolière sprach, wurde mir klar, daß Gott existiert und daß er Psychiater ist“, stellt Lotringer trocken fest und beschreibt die Differenz zwischen den beiden Darstellern. In ihnen stellt Lotringer eine sonderbare Kulmination der Spannungen her, die in und um Artaud herum existierten und immer noch existieren. Es ist ganz einfach: Er lässt sprechen, widerspricht und streitet. Eine spannende Angelegenheit, wie ein Nervenarzt und ein Literaturwissenschaftler darüber diskutieren, ob Artaud nun von der Dadabewegung kommt oder eher zu den Surrealisten zu zählen wäre.

Eine Botschaft? Nein, die stehe nicht hinter Artaud, sagt der Arzt und klopft auf den Tisch. „Das ist so hohl wie der Tisch hier.“ Und zu Lothringer fällt ihm ein: „Sie brauchen ein Beruhigungsmittel!“

WOLFGANG MÜLLER

Sylvère Lotringer: „Ich habe mit Antonin Artaud über Gott gesprochen“. Alexander Verlag, Berlin 2001, 208 Seiten, 19,80 DM

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