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buchmessernEntwickelte Hydrokulturenkultur

■ Pessoa und Blue Curaçao. Gestern wurde die Buchmesse feierlich eröffnet

Politiker haben ihre Redenschreiber für alle Zwecke. Zur Eröffnung einer Buchmesse müssen literarische Zitate und Schriftstellersentenzen her. Petra Roth, Frankfurts Oberbürgermeisterin, hat die Namen Sten Nadolny und Cesare Pavese in ihrer Begrüßungsrede stehen. Aber die Art und Weise, wie sie Cesare Pavese hölzern falsch betont, macht zugleich deutlich, daß sie im wirklichen Leben keine allzu beflissene Leserin sein kann. Könnte sie sonst ernsthaft behaupten, es „knistere in der Stadt“, weil Frankfurt so darauf „gespannt“ sei, „worauf sich die wissenschaftlichen Debatten und historischen Kontroversen konzentrieren“?

Das einzige, was in Frankfurt knistert, sind die Baustellen. Jedes Jahr zuverlässig ein neues Hochhaus, und auf dem Messegelände steht noch eine Halle mehr. Nagelneu auch das Halbrund des Congresszentrums, in dem die Eröffnung zelebriert wird. Es scheint, als müsse ein Ort, der dazu geschaffen ist, ökonomische Kraft zu demonstrieren, auch selbst immer weiter wachsen.

EU-Kommissionspräsident Jacques Santer lobt das Wachstums- und Arbeitspotential der Kultur. Er möchte europavorbildliche Portugalkenntnisse vorweisen und zitiert deshalb die portugiesische Literatur von der „Lyrik des 13. Jahrhunderts“ bis zur „Vielfalt der Tendenzen der Gegenwart“. Nur leider sagt er Pessao statt Pessoa, vielleicht hat er dabei an Blue Curaçao gedacht, was ja auch irgendwie mit Portugal oder wenigstens mit Sonne und Süden zu tun hätte. Dafür paßt seine rotweißgestreifte Krawatte perfekt zum Emblem des Börsenvereins auf dem Rednerpult, einem roten, aufgefächerten Buch auf weißem Grund. Auf der Videowand hinter dem Rücken der Redner kann man diese feine Abstimmung bewundern. Plötzliche Alptraumvorstellung: Man hat immer eine riesige Videowand im Rücken, auf der man überlebensgroß zu erkennen ist, und weiß nichts davon. Zur Bühnendekoration gehören auch gewaltige dschungelhafte Pflanzengebirge. Buchmessenkultur ist Hydrokulturenkultur.

Im mit Grünzeug verschmückten Pressezentrum am weit entfernten hinteren Ende des Messegeländes läßt sich das am besten studieren: Hydrokulturen als Raumteiler, Hydrokulturen als Gemütlichmacher. Keine Frage: Auch die Hydrokultur weist ein enormes Wachstums- und Arbeitspotential auf. Aber wer hat sich den blauen Teppichboden ausgedacht, die braunen Sitzgarnituren und gelb gedeckten Tischchen? Geht man grundsätzlich davon aus, daß Journalisten geschmacklich alles zuzumuten ist? Wie soll man hier arbeiten? Da ziehe ich dann doch die trockene Eröffnungsveranstaltung als Aufenthaltsort vor. Jetzt sprechen die Portugiesen, und im Saal erhebt sich ein wildes Simultangeschnatter und Übersetzungsgezischel aus den verteilten Kopfhörern. Staatspräsident Sampaio beschwört das Buch als „Maß unserer Freiheit“, als „Symbol unserer erneuerten Hoffnung auf eine gerechtere, humanere und universelle Zeit“, und der Essayist Eduardo Lourenco buchstabiert „Literatura“ als „Selbstgespräch der Autoren auf Rechnung des Universums“. Sehr schön. Er sagt: „Der fabelhafte Tumult des zeitgenössischen künstlerischen Schaffens ist auch eine unergründliche Stille. Aber nur wer sich inmitten des Tumultes aufhält, erlebt und kennt den anregenden Schwindel dieser Stille.“ Diesen Satz lasse ich noch ein bißchen nachklingen, wenn ich mich ins Getümmel des Messegeschehens werfe oder auf den langen Laufbändern durch endlose Korridore schwebe, als wäre es London-Heathrow. Großes Gedrängel, unergründliche Stille dann im Portugalpavillon – einem eigens errichteten futuristischen Stahlgebilde, das aussieht wie ein gestrandetes Raumschiff oder eine von Daniel Libeskind zur Übung hingewürfelte Kindertagesstätte.

Ovale Hackfleisch-Häppchen werden an mir vorbeigetragen, endlich habe ich auch ein Glas in der Hand – Vinho Verde, was sonst. Weil ich es aber nicht mag, von hinten angerempelt zu werden, drehe ich mich empörungsbereit um: Roman Herzog steht mir gegenüber, umgeben von breitschultrigen Bodyguards mit Kabel im Ohr und einer Armada aufgeregter Fernsehkameras. Nachdenklichkeit darstellend, betrachtet er portugiesische Folianten, die wie Reliquien in Glaskästen ruhen. Und ich begebe mich zum virtuellen Raum, um dort dreidimensionale Haifische an mir vorbeischweben zu lassen. Aber der Türsteher weist mich ab: „Erst der Präsident.“ Ob auch Haifische dazu dienen, die „aktive portugiesische Melancholie“ (Lourenco) besser zu verstehen? Jörg Magenau

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