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Sklaven des Kapitals
„Regenerierende Rebell*innen“, taz vom 15. 10. 19
Eine Woche der Proteste von Extinction Rebellion, und ich erlebte die Ignoranz und den Egoismus von 90 Prozent der Menschen. Die Demonstranten strahlten eine große Liebe und Zuversicht aus. Sehr besorgte junge Menschen blockierten friedlich zahlreiche Brücken in Berlin und weltweit und brachten so den Alltag eher geringfügig durcheinander. Aber anstatt nachzudenken, worum es diesen vielen Menschen geht, begegneten mir die unterschiedlichsten Argumente, warum dieser Protest sinnlos sei.
Dabei ist mir aufgefallen, dass das Hauptproblem der Gegner war, sich nicht schnell genug voranbewegen zu können. Egal ob Autofahrer, Fußgänger, ja sogar Rikschafahrer, alle betrachteten diese weltweite Großdemonstration als überflüssig. Oft genannt wurde Panikmache oder die persönliche Einschränkung der Freiheit, mit dem Auto freiwillig in dem alltäglichen Stau stehen zu dürfen. Auch „Es ist sowieso zu spät“ oder „Es ist noch immer weitergegangen“ waren Argumente der Zaungäste. Bis hin zu der Forderung, diesem Spuk schnell ein Ende zu setzen. Am meisten wurde aber die Störung des allzu bequemen Alltags bemängelt. Jede Behinderung im Verkehr löst unbändige Wut in den Menschen aus; egal ob zu Fuß oder mit zwei, drei oder vier Rädern. Alles strebt entschlossen vorwärts, als gäbe es am Ziel mehr als das Paradies.
Es bedarf eines sehr langen, friedlichen Atems der Jugend, um auch die letzten Egoisten weltweit zu erreichen und zum Innehalten, ja Nachdenken und bestenfalls zum Umdenken anzuregen. Wenn 90 Prozent der Gesellschaft diesen kleinen Wimpernschlag ihres Lebens nicht bereit sind zu opfern, um etwas der aktuellen Umweltpolitik und der damit verbundenen Zerstörung der Welt entgegenzusetzen, sehe ich tatsächlich schwarz für die Rettung der Erde und der Menschheit.
Wahrscheinlich wird es einfach so verlogen weitergehen. Die Menschen werden weiterhin Sklaven des Kapitals sein und dem Schlachtruf für ein ungebremstes Wachstum folgen, koste es, was es wolle. Umso schöner war es für mich zu erleben, wie fröhlich und liebevoll manche Menschen miteinander umgegangen sind. Soll diese Menschheit wirklich langfristig gerettet werden? Mir kommen immer mehr Zweifel.
Wo sind nur die Leichtigkeit und der Humor geblieben? Ach ja, dafür haben wir ja bezahlte Comedians auf allen Kanälen zum Konsumieren bereitgestellt … Muss ausreichen. Michael Hellebrand, Berlin
„Es war totenstill“
„Die Aufklärung musste von außen kommen“, taz vom 19./20. 10. 19
Als Alt-68er, Leser der taz seit Urzeiten war ich überrascht, ein Foto von mir und meiner damaligen Freundin Inge, später Ehefrau, zu sehen, das vor über 50 Jahren geschossen wurde. Zitat aus meiner Autobiografie von 2009, „Mein Leben – die Schule. Engagement für junge Menschen“: „Ein politisches Ereignis von 68, das mir noch gut in Erinnerung ist, war der Kampf gegen die Notstandsgesetze. Am 18. Mai fand eine riesige Demonstration in Bonn statt. Inge und ich fuhren im Bus dorthin, bewaffnet mit einer roten Fahne. Jahre später wurden wir darauf aufmerksam gemacht, dass in einem Artikel von Peter Glotz über die aufmüpfigen Studenten ein großes Foto von Inge und mir sei.“
In Ergänzung zu Hannes Heers Ausführungen zum Generationenkonflikt der 68er ebenfalls aus meinem Buch: „Im Herbst 68 feierte meine Mutter 30-jähriges Dienstjubiläum, und ich sollte die Rede halten. Ihre Kollegen, der Stadtdirektor, der stellvertretende Bürgermeister waren anwesend. Das Zentrum meiner Rede war die faschistische Vergangenheit meiner Mutter. Nun gab es keine großen Vorwürfe, meine Mutter war Mitglied im BDM, eine typische Mitläuferin. Aber der Kern meiner Rede war: Ihr habt nach 45 geschwiegen. Was habt ihr uns verschwiegen? Warum wolltet ihr nicht mit uns über die Gräuel in den KZs reden? Auch in Velbert gab es Juden. Was habt ihr mit denen gemacht? Es war totenstill im Raum. Dann kamen die ersten Zwischenrufe: ,Aufhören! Unverschämtheit! Das müssen wir uns nicht gefallen lassen!‘ Je heftiger der Widerspruch wurde, umso mehr steigerte ich mich in meine Rede hinein: ,Wir werden das neue Deutschland aufbauen, und Sie werden alle zur Rechenschaft gezogen!‘ Es endete damit, dass die Gäste unter Protest unsere Wohnung verließen. Nicht vergessen werde ich meine Mutter, die wie ein Häuflein Elend auf ihrem Sessel saß. Wie lange es dauerte, bis sich unser Verhältnis wieder normalisierte, weiß ich nicht.“
Ulfert Krahé, Berlin
Kinder an die Leine
„Alles scheißegal“, taz vom 25. 10. 19
Seit geraumer Zeit fallen mir die Antihundeartikel in der taz auf. Nun zur Berliner Schwerpunktaktion des Ordnungsamtes schon wieder. Angeblich weil ein Kind totgebissen wurde. Wo habt ihr das denn her? Die Bissvorfälle sind in den letzten Jahren deutlich zurückgegangen und liegen im einstelligen Bereich, soweit ich mich erinnere.
Ihr braucht auf jeden Fall eine Hundekolumne, und zwar von jemandem mit Hund. Außerdem solltet ihr euch mit eurem Alle-Hunde-immer-an-die-Leine-Scheiß auseinandersetzen. Wenn’s danach geht, müssten auch alle Kinder, Radfahrer/innen, Autofahrer/innen, Drogis und vor allem Männer an die Leine. Elisabeth Drescher, Berlin
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