bettina gaus über Fernsehen : Spiegel der Vergangenheit
Sogar Wiederholungen im Fernsehen können über die Gegenwart informieren
Auf manchen Familienfeiern sind sie unverzichtbar, vor allem auf Hochzeiten: bewegte Bilder der Anwesenden aus früheren Tagen, über die alle dann schrecklich laut lachen. Am lautesten und ein bisschen verkrampft diejenigen, die gerade auf der Leinwand zu sehen sind. Sie finden insgeheim meist, dass sie sich sooo sehr doch gar nicht verändert haben. Was wollen die Verwandten bloß? Besser mitlachen als nachfragen.
Nur wenige bringen es fertig, so nüchtern in den Spiegel der eigenen Vergangenheit zu blicken wie Jürgen von der Lippe. Der zeigte am vergangenen Samstag in der endgültig letzten Folge der ARD-Sendung „Geld oder Liebe“ einige Aufnahmen seiner Premiere vor zwölf Jahren. Immer wieder werde er von Leuten gefragt, wieso er denn heute noch genauso aussehe wie früher, hatte er vorher erzählt. Das Publikum, das zum scheidenden Showmaster an diesem Tag besonders lieb sein wollte, reagierte hinterher ein bisschen betreten. Der gereifte Jürgen von der Lippe schmunzelte altersweise. Er weiß offenbar, dass manche Komplimente spätestens seit der Erfindung des Films auf den Index gehören.
Oder vielleicht doch nicht. Für einige Auserwählte scheinen die Gesetze des Alterns tatsächlich nicht zu gelten. „Erstmals seit fast drei Jahrzehnten hat Berlin wieder einen Christdemokraten als Regierenden Bürgermeister“, meldete die Tagesschau am 11. Juni 1981. Das Einspielband zeigt den Cercle der Gratulanten im Abgeordnetenhaus. Ich erschrecke: Was denn, so lange ist der Diepgen schon dran? Nein, ist er nicht. Richard von Weizsäcker wurde an jenem Tag vereidigt, und Eberhard Diepgen hielt sich damals einfach nur dicht, ganz dicht neben ihm.
Was für ein Lebenslauf! Vor 20 Jahren hatte er es bereits so weit gebracht, dass er dem Bürgermeister am nächsten stand, dann wurde er selber einer, vorübergehend war er es nicht und dann doch wieder – und nichts, gar nichts davon hat sich in seinem Gesicht eingegraben. Er sieht wirklich noch immer genauso aus wie früher: eine freudige Erwartung.
Gäbe es keine Menschen wie Eberhard Diepgen, der WDR machte sich mit der täglichen Ausstrahlung der 20 Jahre alten Tagesschau der Subversion schuldig. Wir könnten glauben, Macht sei vergänglich und die Dinge wandelten ihren Lauf. Klaus Bednarz war blond, und die USA verhandelten mit der Sowjetunion über Rüstungsbegrenzung. Die Jahrestagung von amnesty international war der Redaktion 1981 mehr als zwei Minuten Sendezeit wert. Offenbar hat sich die Menschenrechtssituation seither entscheidend verbessert.
Wer war damals bloß Bundeskanzler? Tagelang kam er in den Nachrichten nicht vor. Auch die Gesichter der Auslandskorrespondenten tauchten seinerzeit nur selten auf dem Bildschirm auf. Sie verbrachten viel mehr Zeit damit, uns über die Lage in ihrem Berichtsgebiet zu informieren als sie uns zu erklären. Wie haben wir nur verstanden, was in der Welt vorging?
Nichts bleibt, wie es war, und vieles ist geschehen. Eine Mauer fiel, eine Weltmacht trat mit einem Winseln ab, Lady Diana verliebte sich, entliebte sich und starb. Die D-Mark wird abgeschafft. In solch wirren Zeiten wird ein Eberhard Diepgen gebraucht. „Ziele – Ausdauer – Mut“ stehen heute als Motto auf seiner Homepage, und was immer man von seinen Zielen und seinem Mut halten mag: Ausdauer ist dem Mann nicht abzusprechen. Auf das Gesicht von Diepgen ist Verlass, ebenso wie darauf, dass es auf irgendeiner Autobahn in der Umgebung von Wuppertal immer eine Großbaustelle geben wird.
„Die Hoffnung auf Beständigkeit gibt Trost und Kraft zu jeder Zeit“, heißt es in einem alten Vokslied. Gewiss, auch einige andere Meldungen in der Tagesschau vom 11. Juni 1981 lassen uns in dieser Hinsicht nicht ungetröstet. Zum Beispiel die, dass es für die US-Administration jetzt vor allem darauf ankomme, den Friedensprozess im Nahen Osten voranzutreiben. Oder der Wetterbericht: Ein „kompaktes Wolkenband“ liegt über Europa. Aber kann so etwas Eberhard Diepgen ersetzen? Berliner, schaut auf diesen Mann!
Er wird bleiben. Berlin ist ein Dschungel, aber nicht schutzlos. Seit 1280 wacht über diese Stadt ein Bär. „Der Wald wird immer da sein, und jeder, der mit einem Bären befreundet ist, kann den Weg dorthin finden“, hat A. A. Milne geschrieben, der Vater von Pu. Was früher für ein Kinderbuch gehalten wurde, erweist sich heute als Prophezeiung: „Wohin der Weg auch führt und was auch immer unterwegs geschieht – an der verzauberten Stelle da oben im Wald wird stets ein kleiner Junge mit seinem Bären spielen.“ Ich bin sicher: Milne hat damit Eberhard Diepgen gemeint. Schließlich ist Pu ein Bär von sehr geringem Verstand.
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