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bettina gaus über FernsehenAls die Inzenierung laufen lernte

Der GAU: Es geschieht etwas, und keine Kamera ist vor Ort

Was ist Intimität? Die Abwesenheit von Kameras. Eine seltene, kostbare Situation. Vor Bankschalter und Traualtar, im Kindbett und im Bundesrat: Das ganze Leben der ganzen westlichen Welt, lückenlos dokumentiert für die Ewigkeit. „Lassen Sie mich durch! Ich bin Arzt!“ Früher sprach so nur der Notarzt am Unfallort. Heute kämpft sich sein Kollege aus der Gynäkologie mit diesem herzlosen Befehl am filmenden Vater vorbei zur werdenden Mutter durch. Fragt da noch jemand, warum Peter Müller einfach mal so geredet hat, wie’s ihm ums Herz war, als er im Staatstheater Saarbrücken vor ein paar hundert Zuschauern über Politik und Theater sprach? Man war doch unter sich. Einsam war er, Werther gleich: Kein Fernsehteam hat ihn begleitet. (Das sollte dem saarländischen Ministerpräsidenten übrigens zu denken geben.)

Was für die Unionsparteien ein überflüssiges Ärgernis ist, wurde für die Sender zum größten anzunehmenden Unfall. Kein! Einziges! Fernsehteam!! Keine! Bewegten! Bilder! Von! Dieser! Rede!!! Es macht Freude, sich die Redaktionskonferenzen vorzustellen. Ein spektakulärer Außenseitersieg des Hörfunks. Das Fernsehen: jäh von der schwindelnden Höhe des Triumphs – was für eine Bedeutung hätte die Bundesratssitzung schon ohne Bilder gehabt? Hätte sie überhaupt stattfinden müssen? – in die gähnende Tiefe einer vernichtenden Niederlage gestürzt.

Es hat sich etwas ereignet, aber wir haben nicht hingeschaut. Hat es sich dann überhaupt ereignet? Das kommt darauf an. Wenn etwas an einem weit entfernten Ort passiert ist, dessen Nachrichtenwert in den Augen der meisten Fernsehredakteure lediglich in dramatischen Bildern besteht, dann ist es ohne die Anwesenheit von Kamerateams eigentlich nicht passiert. Das gilt für die meisten Kriege, Hungersnöte und ähnliches Zeugs. Wenn hingegen in Deutschland etwas geschieht, was auf der nach oben offenen politischen Klatschskala rekordverdächtige Werte erreicht, dann hat es wohl doch stattgefunden. Selbst wenn es keine Bilder gibt. Also muss darüber berichtet werden. Bloß: wie?

Ganz ruhig bleiben, es gibt doch Bilder, haben sich offenbar manche Redakteure gesagt und noch einmal den empörten hessischen Ministerpräsidenten Roland Koch im Bundesrat gezeigt, während uns sein saarländischer Amtskollege aus dem Off erklärte, dass diese ganze Aufregung bloß Theater gewesen sei. Das war ein ziemlich gemeiner Einfall, aber angesichts der zusätzlichen Information über ihre Entstehungsgeschichte hatten die Aufnahmen tatsächlich einen hohen Nachrichtenwert. Folgenlos sind sie erkennbar nicht geblieben: Nach einer Infratest-Umfrage hat das Drama um das Zuwanderungsgesetz das Ansehen aller Parteien und ihrer Spitzenpolitiker beschädigt. Am meisten aber das von Koch. Nur 18 Prozent der Befragten halten ihn für glaubwürdig.

Die meisten Sender wählten für die Übermittlung des Redeausschnitts allerdings die traditionelle Methode: das Standbild. Endlos schien die Zeit zu währen, in der wir einen unbewegten, milde lächelnden Peter Müller auf dem Bildschirm sahen. Gerade wegen der Dauer dieser Einblendung war auch das Standbild ein unerwartet aufschlussreiches Dokument. Zum einen rückte es die Tatsache ins Bewusstsein, dass in den Fernsehnachrichten jemand nur sehr selten mehrere Sätze hintereinander sprechen darf, ohne unterbrochen zu werden. Zum anderen stand plötzlich die Frage im Raum, warum eine Nachricht fast nie ohne passende Bilder bleibt. Auf diese Frage gibt es eine einfache Antwort: weil die Akteure dafür sorgen. Was immer sich mit Blick auf Sendetermine planen lässt – es wird geplant. Es gab keinen vernünftigen Grund, weshalb die US-Soldaten, die 1992 nach Mogadischu geschickt worden waren, mitten in der Nacht in der somalischen Hauptstadt eintreffen mussten. Außer einem Zeitplan, der sich an den Hauptnachrichtensendungen in den USA orientierte. Eine spektakuläre Ausnahme? Von wegen. Keine Parteitagsregie macht heute noch eine Tagesordnung, ohne bei der Platzierung der Hauptredner die TV-Sendezeiten zu berücksichtigen.

Bei der bevorstehenden Kommandeurstagung der Bundeswehr im April ist die gemeinsame Pressekonferenz von Bundeskanzler, Verteidigungsminister und Generalinspekteur für 17.30 Uhr angesetzt – zu spät für den Andruck aller überregionalen Blätter, aber gerade rechtzeitig für den Beginn der Fernsehnachrichten. Es ist ja vielleicht realistisch, wenn Leute, die eine Botschaft transportieren wollen, in diesem Zusammenhang nur noch auf Bilder setzen. Aber dann möchte man wenigstens nicht mehr mit Klagen über die Allmacht dieses Mediums belästigt werden.

Die Äußerungen von Peter Müller gehen übrigens nicht über das hinaus, was die interessierte Öffentlichkeit hinsichtlich der Inszenierung von Politik längst wusste. Dennoch können wir davon ausgehen, dass weder er noch seine Kollegen das jemals wieder ohne Kameras tun werden. Ob das die Offenheit des politischen Diskurses fördert?

Fragen zu Fernsehen kolumne@taz.de

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