: betr.: "Im Block Mützen ab" von Gabriele Goettle, taz vom 1.12.90
betr.: „Im Block Mützen ab“ von Gabriele Goettle, taz vom 1.12.90
Sehr geehrte Frau Goettle, in der taz habe ich Ihren äußerst lesenswerten Bericht gelesen. Sie haben im Gegensatz zu vielen anderen die historische Aussage, die Anlage und die Kommerzialisierung der Gedenkstätten richtig aufgezeigt. [...]
Auch die Frage der Literatur haben Sie sehr richtig gestellt. Schließlich gibt es gerade über Auschwitz Bücher, Broschüren, Prozeßberichte in deutscher Sprache, die das Museum bestimmt erhalten konnte. [...] Es ist sicher kein Zufall, daß nur das Kalendarium über Auschwitz Birkenau von Herrn Danuta Czech vorhanden ist. Herr Czech ist einer der modernen Statistiker, der aufgrund von vorgefundenen Listen feststellte, daß nur 920.000 Juden in Auschwitz ermordet wurden, für die übrigen gibt es eben keine Listen und Tätowierungsnummern. Man pflegte die Leute nicht zu numerieren und tätowieren, wenn man sie direkt vom Bahngeleise ins Gas trieb...
Was mir besonders an Ihren Ausführungen gefiel, war die Tatsache, daß Sie genau den Charakter der Vernichtungslager erkannt haben, nämlich, daß sie ein modernes Großunternehmen der SS und der IGFarben darstellten, daß die Vernichtungslager wie Großunternehmen geführt wurden für die Organisation einträglicher Zwangsarbeit.
Sie gehören zu den wenigen, die das Problem unserer Zeit sehen, wenn Sie sagen: „Gespenstische Vorstellung, daß wieder zusammenwachsen könnte, was früher zusammengehörte — als IGFarben-Konzern.“ Genau dasselbe kam mir in den Sinn, als über die Rückgabe der alten IGFarben-Betriebe in den letzten Monaten in West und Ost diskutiert wurde.
Und doch ist Ihnen (ohne daß Sie daran schuld sind) das teuflischste und inhumanste an dem System der Vernichtungslager entgangen: die Tatsache, daß man die einzelnen Gruppen gegeneinander gehetzt hat, daß man die Häftlinge von anderen Todgeweihten quälen und vernichten ließ.
Ich weiß, das Prinzip divide et impera ist bereits ein Prinzip der alten Römer gewesen. Die europäischen Sklavenhändler hätten niemals mit einer Handvoll Leuten Hunderte und Tausende von Farbigen gefangennehmen und verschleppen können ohne die Hilfe der Afrikaner; aber in Auschwitz war dieses System perfektioniert und besonders grausam. Nicht nur daß die Kapos und Stubenältesten und die in der Verwaltung Arbeitenden für die politischen Gruppen mit Vorliebe Kriminelle oder Asoziale waren, neben allem anderen wurden die nationalen und sprachlichen Unterschiede mit besonderer Perfidie ausgenutzt. [...] Alles war darauf eingerichtet, die nationalen Gruppen gegeneinander aufzuhetzen.
[...] Was mich am meisten bei der heutigen Situation schmerzt ist, daß man schon wieder diese nationalen und religiösen Vorurteile dazu nutzt, um die Menschen gegeneinander aufzuhetzen, und daß es in der Sowjetunion in den 70 Jahren nicht gelungen ist, den Menschen die Unsinnigkeit und die geplante Teufelei dieser Vorurteile klarzumachen. Ich bin von Natur aus eine Optimistin, sonst hätte ich nicht Auschwitz überlebt, aber in letzter Zeit fange ich doch an, an der Vernunft und der Normalität der Menschen zu zweifeln. [...] Dr.Lilli Segal, Berlin
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