besucht die kaspergruft! von EUGEN EGNER :
Auf einem freien Platz in der Nachbarschaft gastierte wieder der kleine Wanderzirkus, der schon im vergangenen Sommer dort Station gemacht hatte. Mir fiel sofort auf, dass ein völlig neues Programm geboten wurde. Nachdem beim letzten Gastspiel nicht einmal die Schulkinder vom Gebotenen beeindruckt gewesen waren, wandte man sich jetzt eindeutig an ein erwachsenes Publikum. „Besucht die Kaspergruft“ prangte in Riesen-Neonlettern über dem Eingang.
Diese Entwicklung ermutigte mich, endlich den Schritt zu wagen, mir meinen größten Kindheitswunsch zu erfüllen und um eine Anstellung beim Zirkus nachzusuchen. Doch nicht etwa als Handlanger oder Stallbursche, sondern als Artist. Ich war davon überzeugt, als „Unglaublicher Haferflocken essender Mann“ einigen Eindruck, wo nicht gar Karriere machen zu können, wenngleich mir die Formulierung „Unglaublicher Haferflocken essender Mann“ nicht ganz glücklich erschien. Doch daran konnte ich vorerst nichts ändern, ich war kein Fachmann für geglückte Formulierungen, sondern fürs Haferflockenessen. Wenn ich erst einmal engagiert wäre, würde die Sache automatisch ihren Chic bekommen.
Ausgestattet mit einem Beutel Haferflocken und meinen Rentenunterlagen betrat ich eines Vormittags das Zirkusgelände und erkundigte mich nach der Personalabteilung. Man schickte mich zum Wohnwagen des Direktors. Dem trug ich mein Anliegen vor und begann, zur Bekräftigung meiner Worte Haferflocken zu essen. Der Direktor schüttelte den Kopf. „Nehmen Sie es bitte nicht persönlich“, sprach er bedauernd, „es gibt viele Männer, die Haferflocken essen.“ – „Aber wie viele davon sind unglaublich?“, erwiderte ich leidenschaftlich. „Selbst wenn Sie der Allerunglaublichste unter ihnen wären“, beharrte der Direktor, „könnte ich doch nichts für Sie tun. Solche Attraktionen will heutzutage niemand mehr. Der Zirkus, wie wir ihn kannten, ist tot. Darum haben wir alle Artisten und Tiere verkauft. Unsere Zukunft liegt einzig in der Präsentation der Kaspergruft.“ – „Das darf doch nicht wahr sein!“, rief ich. „Und doch ist es so“, sagte der Direktor.
Im Folgenden erfuhr ich von ihm erstaunliche Dinge. Aufgrund ihrer miserablen Wirtschaftslage waren die kleinen Wanderzirkusse im Land mit den ebenfalls in ihrer Existenz bedrohten Kaspertheatern fusioniert. Nur so, beteuerte der Direktor, bestünde Aussicht, sich künftig, vor allem an der Börse, behaupten zu können. „Aber warum ‚Kaspergruft‘?“, rief ich verständnislos. Dabei fiel mein Blick auf einen Stapel Handzettel. „Vergebt euch selbst!“, lautete der Text darauf. Die Idee zur „Kaspergruft“, so erfuhr ich, verdanke man der Lektüre eines wissenschaftlichen Werkes, R. M. E. Streufs maßgeblicher Schrift: „Wie ich den Kasper mit ins Grab nahm und daran gesundete“. Naturgemäß handele es sich um eine mobile Gruft, etwa so groß wie ein üblicher Käfigwagen.
„Ist wirklich Kasper drin?“, fragte ich naiv. Darauf antwortete der Direktor geheimnisvoll: „Das ist, wie sich denken lässt, die am häufigsten gestellte Frage.“ Ich überlegte: Wenn es tatsächlich so wäre, hieße das ja, dass Kasper tot wäre. Hatte man ihn etwa um des Geschäftes willen getötet? Mit Kaspergift?