bernhard pötter über Kinder: Winterschlaf im Kreißsaal
Der Marathon einer Geburt: Das Kind leidet. Die Mutter leidet. Doch am meisten leidet der Vater
„Bist du auch einer von diesen Männern, die kein Blut sehen können?“, fragte mich die Hebamme und guckte streng. „Ich kann dir sagen, reiß dich zusammen. Im Kreißsaal haben Anna und ich genug andere Sachen zu tun, als uns darum zu kümmern, dass dem Vater schwarz vor Augen wird.“
Schluck.
Das war vor drei Jahren. Die Geburt von Jonas stand ich durch wie ein Mann. Flau im Magen wurde mir nur, als ich mein Kind dann abnabeln sollte. Nicht, weil das so hochsymbolisch ist, sondern weil die verdammte Schere so stumpf war, dass ich eine Weile hilflos an der Nabelschnur herumsäbelte. Aber sonst bekam ich für meine Zeit im Kreißsaal gute Haltungsnoten.
Das ist jetzt anders. Wie ein nasser Waschlappen hocke ich auf Annas Bett und starre auf den Wehenschreiber. Der wirft Kurven wie ein Seismograf am Fuße des Ätna. Wir sind im Krankenhaus, weil sich unsere Tochter nicht an die Abmachungen hält. Ausgerechnet heute will sie auf die Welt. Wo Papa doch seit neun Monaten trainiert hat: Für den Marathon, den ich am Morgen mit 30.000 anderen Läufern begonnen habe. Wo doch die Sonne so schön scheint und der Lauf so gut lief.
Ahnungslos wie ein Neugeborenes erwartete ich dann bei Kilometer 17 meine Familie. Stattdessen zerrten mich Freunde aus dem Lauf und schickten mich nach Hause. Wo Anna zwischen zwei Wehen keuchte: „Dusch dich, damit du nicht den Kreißsaal vollstinkst.“ Jetzt sitzen wir hier. Mein Puls ist von 130 (Leistung) auf 70 (Winterschlaf) runter. Ich fühle mich wie ein Atomkraftwerk nach der Notabschaltung. Nur mein Kopf läuft noch.
Aber im Krankenhaus steht die Zeit still. Anna leidet, weil das Baby auf die Welt will. Ich leide, weil Anna leidet. Die Geliebte stöhnt ihren Schmerz in die Welt. Mir bleibt nur, die Hände zu ringen. Und dem Krankenhaus heimlich die Wasserflaschen zu leeren, die eigentlich Anna trinken soll.
Ich stehe auf und stehe im Zimmer rum. Ich gehe auf die Toilette. Ich suche nach der Hebamme. Ich krame in unserer Tasche. „Kann ich dir irgendwas Gutes tun?“ Nein, Anna will nur ihre Ruhe. „Es ist so gut, dass du da bist,“ sagt sie.
Aber ich mache doch gar nichts! Ich atme Anna die Luft weg. Ich starre auf das Bild an der Wand. Ich gehe schon wieder aufs Klo. Ich gucke dauernd verstohlen auf die Uhr und denke an meinen Marathon interruptus. Jetzt wäre ich bei Kilometer 25, da müsste noch alles gut gehen. Ich setze mich aufs Bett, stehe auf und setze mich wieder hin. Alles langsam und leise, um Anna nicht zu nerven.
Alle haben hier ihre Funktion: Anna bringt das Kind auf die Welt. Die Hebamme weiß, was zu tun ist. Die Ärztin behält den Überblick. Die Putzfrau wischt das Blut von der vorigen Entbindung weg. Ich studiere das Muster der Raufasertapete und mache mir Sorgen.
Was machen Männer, wenn ihre Kinder geboren werden? Mein Vater ging arbeiten. Mein Schwiegervater war zu Hause und hielt die kaputte Balkontür zu. Es war Sturm, und sonst wäre die Bude weggeflogen. Andere saßen Kette rauchend im Wartezimmer. Von unserer Generation wird erwartet, dass wir dabei sind, wenn es ernst wird.
Aber wir dürfen nichts tun. Wir sollen die Hände in den Schoß legen. Dafür jedoch sind wir nicht gemacht. Haben wir freie Zeit, müssen wir am Auto herumschrauben, Fußball spielen oder den Hobbykeller fliesen. Die einzig mögliche Art für einen Mann, in seiner Freizeit stillzusitzen, ist vor dem Fernseher. Dann können wir anderen Männern zusehen, wie sie an Autos herumschrauben, Fußball spielen oder den Hobbykeller fliesen. Frauen sind da anders. Sie können stundenlang Tee trinken und reden. Oder auf der Wiese liegen und die Wolken anschauen. Oder im Kreißsaal ihren Mann einfach nur dabei haben wollen.
Endlich Action: Nach 3:30 Stunden startet unser Kind seinen Endspurt. Jetzt pressen! Ich sitze hinter Anna und halte sie fest, bis mein Rücken schmerzt. Da! Der Kopf! Voller schwarzer Haare! Begleitet vom Geschrei der Eltern rutscht unsere Tochter Teresa über die Ziellinie. 3:53 Stunden, nicht schlecht für den ersten Marathon. „Sehr gute Sauerstoffversorgung,“ sagt die Hebamme. Ich nicke. Dafür habe ich schließlich monatelang trainiert. Dann merke ich, dass sie meine Tochter meint. Teresa sieht so erledigt aus wie ich nach 42 Kilometern: Ausgepumpt, rot und blau im Gesicht, schmerzende Muskeln. Ich kenne diesen Wunsch: Nur noch trinken und schlafen.
Teresa schlummert auf Annas Bauch, Anna schaut sich ihre Tochter an. Stundenlang. Sie ist glücklich. Ich mache Fotos, fülle Formulare aus, kläre Details mit der Ärztin, bestelle das Auto für die Heimfahrt, hole die nutzlosen Gratisproben ab, gehe meine Tochter anmelden, alarmiere die Großeltern, besorge was zu essen, hole was zu trinken, klaue Binden für Anna, untersuche die Dusche, wickle Teresa und ziehe sie an. Und bin glücklich.
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