bernhard pötter über Kinder: Die Machtpolitik der Gewohnheit
Die Vierjährigen von heute sind politikverdrossen – doch sie haben einen Riecher für die richtige Wahl
„Sie können da nicht in die Wahlkabine“, sagte der Beamte und guckte streng. Er sah so aus, als wollte er mir die Stimmzettel gleich wieder abnehmen. „Was?“ Ich war viel zu verdattert, um für meine demokratischen Rechte zu kämpfen. „Sie dürfen nur allein in die Kabine“, sagte der Urnenwächter.
Ich blickte an mir herunter. Ach, ja, richtig. Vor meiner Brust hing Jonas, 12 Tage alt. Endlich war er eingeschlafen. Und jetzt sollte das Wahlgeheimnis meinem Ausflug ein Ende machen? „Aber der ist keine zwei Wochen alt“, sagte ich. „Er wird niemandem erzählen, dass ich die Grünen wähle.“ Der Zerberus gab nicht nach. „Wollen Sie ihn so lange halten? Dann fängt er an zu kreischen“, drohte ich. Das half – wir machen eine Ausnahme! Jonas schnarchte leise im Tragetuch und wir wählten die erste rot-grüne Bundesregierung ins Amt.
Das war vor vier Jahren. Aber mein Sohn leidet immer noch unter dem Folgeschaden Politikverdrossenheit. An seinem Geburtstag durfte er „Bestimmer“ sein und uns alle rumkommandieren. Ich habe diese Vorübung für den Kasernenhof als Kind geliebt: An meinem Geburtstag durften alle die Teller nach dem Nachtisch ablecken oder mussten verschiedenfarbige Socken tragen. Jonas fand das nur langweilig. „Ich will nix bestimmen“, maulte er. Er wollte nur in Ruhe gelassen werden. Ein Privatier. Ein Hedonist. Ein Kind der Kohl-Ära eben.
Politik interessiert ihn nicht, weil er erst beim über-über-übernächsten Mal mitmachen darf. Und das, obwohl über sein Schicksal bei den Wahlen wesentlich mehr entschieden wird als über mich (Jahrgang 1965) oder Edmund Stoiber (Jahrgang 1941). Die Debatten zu Bildung, Finanzen oder Umwelt sähen anders aus, würden die Themen von Menschen diskutiert, die sie noch jahrzehntelang ausbaden müssen. Und Politik ist ja auch komisch; was ist der Unterschied zwischen Wahlen und Walen? Warum gibt man da seine Stimme ab?
Also ein Feldversuch. Wir suchen Wahlplakate in der Stadt. Wen würde Jonas wählen? „Alle Erwachsenen können sagen, wer der neue Oberchef sein soll. Sag mir mal, welcher von denen Chef werden soll.“ Ich hielt mich raus und respektierte den freien Willen der nächsten Generation. Kein ökonomischer, sozialer oder moralischer Druck. Freie Wahlen.
„Die nicht“, sagt Jonas, „die grinst so blöd“ (Grygier, PDS). „Der schon. Guckt freundlich“ (Ströbele, Grüner). „Der auch nicht. Sieht doof aus“. (Westerwelle, FDP). „Mittelgut und mittelschlecht. Soll aber nicht Oberchef werden, weil er Vampirzähne hat“ (Stoiber mit Graffiti). Schließlich Schröder: „Der soll Oberchef bleiben.“ Warum? „Weil er schon Oberchef ist.“
Das konservativste aller Argumente. Aber gut. Traumwandlerisch sicher plädiert mein Sohn für Rot-Grün. (Ich unterschlage, dass er auch Richter Gnadenlos Schill „gut“ fand.) Ein Votum aus der Mitte des Volkes, von keiner Sachkenntnis getrübt. Es erinnert an die Investmenttests mit Aktienanalysten, Kleinkindern und Schimpansen. Dabei gewinnen immer die Affen.
Aber wie rational treffen wir Erwachsenen denn unsere Entscheidungen?
Wer fragt schon, ob wir auf das dritte Stück Torte wirklich noch Hunger haben. Ob wir den Porsche Cabrio aus dem Preisausschreiben wirklich haben wollen? Ob wir den richtigen Mann geheiratet haben? Ob wir im richtigen Job arbeiten und nicht als Schäfer glücklicher wären? Ob Kinder nicht unser Leben ruinieren? Oder ob das Rauchen das tut?
Wahlforscher sagen, der Wahlausgang hänge von drei Faktoren ab: den Sachfragen, den Kandidaten und den langfristigen Bindungen an eine Partei oder ein Milieu. Bei den Kandidaten verliert offenbar der Bewerber mit Draculazähnen. Bei Sachfragen ist ein Vierjähriger doch etwas überfordert. Es bleibt die traditionelle Bindung an bestimmte Parteien als Entscheidungshilfe. Die nimmt zwar ab, weil wir individualistischen Arbeiter-, Bauern- und Beamtenkinder weder den Beruf noch die politischen Neigungen unserer Eltern geerbt haben. Aber beim parteipolitischen Fremdgehen sind die Deutschen eher vorsichtig: Immerhin 75 Prozent der Wähler gaben 1998 ihre Zweitstimme der gleichen Partei wie 1994. Nur ein Viertel wechselte die Fronten. Für Analysen von 2002 ist es noch zu früh.
Auch Jonas hält sich daran: Bewahrt das Bewährte, ist sein Motto bei der abschließenden Debatte um die Wahl des Oberchefs. Also bilde ich mir nichts ein. Es ist nicht die Kompetenz in Sachfragen. Es ist nicht die Sympathie für den Kandidaten. Es ist nur die Macht der Gewohnheit. „Papa, ich will, dass du Oberchef wirst.“
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