piwik no script img

berlinmusikZerfaserte Skizzen

Wer sich auch nur ein bisschen für Jazz interessiert, der wird um den Namen Kalle Kalima kaum herumgekommen sein. So spielt der finnische Gitarrist etwa in der famosen Band Kuu! der Sängerin Jelena Kuljić, hatte mit Jimi Tenor die Tenors Of Kalma und wirkt in zahlreichen anderen Konstellationen mit. Im Kontext des amerikanischen (Westcoast-)Folk und Country hat man ihn bislang nicht wahrgenommen. Gemeinsam mit Knut Reiersrud (Gitarre und Elektronik), Phil Donkin (Bass) und Jim Black (Schalgzeug) hat er ein Album eingespielt, auf dem er sich seiner Liebe zum Americana-Sound widmet. Die sieben Stücke auf „Flying like Eagles“ sind allesamt instrumental, mit ausschweifenden Gitarrenmotiven. Das kling bluesig, gelegentlich jazzig, auch mexikanische Einflüsse oder Middle-Eastern-Anleihen sind zu vernehmen. Das Quartett wagt sich an drei absolute Klassiker, darunter „Hotel California“ von den titelgebenden Eagles, zudem Buffalo Springfield („For What It’s Worth“) und die Nine Inch Nails („Hurt“). So etwas kann schnell danebengehen, hier aber gelingt es, weil die Gitarristen Kalima und Reiersrud sich langsam in die Stücke hineintasten und die Songs eher als Skizze durchschimmern, aber in etwas ganz anderes transformiert werden. Und wie das tolle „Hurt“ zerfasert, zerläuft, mäandert – das muss man schon selbst hören.

Musikalisch auf gänzlich anderem Terrain unterwegs ist Ricardo Bruce. Der Portugiese, der sich als Produzent Ivy’s Hands nennt und 2017 debütierte, changiert in seinem Sound zwischen Techno, Wave und Experiment. Seine neue EP „Leonor“ erzählt die unglaublich traurige Geschichte eines Mädchens, das Bruce bei einer Partynacht im SO 36 auf der Tanzfläche kennenlernte. Schon während des Tanzens sah sie ziemlich mitgenommen und fertig aus, und gegen Ende des Abends fand man jene Leonor leblos auf der Toilette. Sie hatte sich das Leben genommen, starb noch am gleichen Abend. Wie Ricardo Bruce nun an dieses Mädchen erinnert, das fasst einen an; die fünf Stücke zeichnen ihren letzten Abend nach. Da gerät die sphärisch wummernde Musik in den Hintergrund, und man möchte, wie Ivy’s Hands im vierten Stück, einfach nur sagen: „Goodbye Leonor“. Jens Uthoff

Kalle Kalima/Knut Reiersrud: „Flying Like Eagles“ (ACT Music), 24. 9., Philharmonie

Ivy’s Hands: „Leonor“ (Borshch Records)

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen