berliner szenen: Mit Schere und Klebestift
Sie im öffentlichen Dienst? Wenn ihr das jemand prophezeit hätte, sie hätte es noch vor Kurzem vehement bestritten. Und jetzt arbeitet sie schon seit einem Monat in der Behörde. Der Arbeitsweg passt super. Von Moabit braucht sie mit dem Rad keine Viertelstunde, es gibt sogar eine ganz gute Busverbindung. Die Kantine ist besser als erwartet, sie isst jetzt fast jeden Tag warm. Aber der Rest – gewöhnungsbedürftig. Auf den Rechnern gibt es weder Google noch ChatGPT, aus Datenschutzgründen verboten. „Echt jetzt?“ Die Freundin folgt ungläubig dem Erfahrungsbericht. Die beiden haben früher in einem Start-up zusammengearbeitet. „Doch, alles wie in der Steinzeit. Neulich musste jemand ein Formular ausfüllen für drei verschiedene Empfänger. Der hat das tatsächlich dreimal eingetippt. Und eine hat ein Dokument ausgedruckt, zerschnitten, neu zusammengeklebt und wieder eingescannt.“ Wenn sie ihnen Hilfe anbietet, wird die beschämt, aber auch dankbar angenommen. Sie sagt dann immer, keine Ursache, sie sei schließlich für Digitalisierung eingestellt worden und schluckt runter, dass sie sich das nicht wie Kita-Betreuung vorgestellt hat. „Dafür klingt es ganz schön chillig“ – die Freundin wirft jetzt die Vorteile in die Waagschale. „Weißt du noch, wie sie uns immer hinterhältig gefragt haben, was wir beschleunigen könnten, um ganz vorne bei den Startern mitzuspielen? Dass uns sonst womöglich die Investoren abspringen?“ Klar weiß sie das, genau deshalb wollte sie ja das junge Team verlassen, sie wollte nicht mehr arbeiten bis zum Umfallen. „Du musst nur aufpassen, dass es bei den pipileichten Anforderungen für dich nicht im Bore-out endet“, sorgt sich jetzt die Freundin. Das ist ihr auch schon durch den Kopf gegangen – hat sie erst gegoogelt und dann mit ChatGPT diskutiert. Echt jetzt?Claudia Ingenhoven
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