berliner szenen: Stehen Lemminge an?
Betriebsstörung. Die Ansage verspricht eine U-Bahn in 36 Minuten. Die Sprecherin entschuldigt sich. Ein Teil der Wartenden strömt zum Ausgang, andere zucken resigniert die Schultern. Eine Frau befindet: „Früher gab’s so was nicht!“ Ich habe eine Verabredung und will meine Freundschaft nicht riskieren. Schon beim letzten Mal vor etlichen Wochen fuhr die U-Bahn nicht, die Freundin wartete im Café vergeblich, denn sinnigerweise hatte ich kein Handy dabei (ich bin doch von so was nicht abhängig!), konnte weder Taxi noch Freundin anrufen. Diesmal habe ich das Handy dabei. Hilft aber nichts, der bestellte Chauffeur kommt nicht. Mir gelingt es, irgendein Zufallstaxi einzufangen. Der Fahrer warnt, die City sei dicht. Alles voller Demonstrationen, Volksläufen und anderen Lustbarkeiten. Er freut sich, dass ich nicht zum Hauptbahnhof will. Dorthin sei kein Durchkommen. Wir grübeln gemeinsam, warum so viele Menschen gern auf einem Haufen sind. Sich Silvester schon Stunden vor Mitternacht vorm Brandenburger Tor drängen. Die vollsten Strände aufsuchen und sich zwischen andere Badelaken zwängen. Denn: Wo viele Menschen sind, muss es einfach toll sein. Weder der Taxifahrer noch ich würden Schlange stehen, um sich hässliche chinesische Plüschtiere, irgendwelche Eintrittskarten oder gar Gemüse-Kebab zu kaufen. „Lemminge“, knurrt der Taxifahrer. Er vermutet, dass das Schlangestehen bereits in der Steinzeit seinen Ursprung hatte. Hä? „Na klar, so einen Mammut gab es vielleicht einmal im Jahr. Da stand der ganze Stamm an, um was abzubekommen.“ Vor meinen Augen stehen Hunderte Neandertaler mit ihren Näpfen geduldig vorm Mammutgrill. Vor irgendeiner Straßensperre lässt mich der Fahrer raus. Ich bin fast pünktlich, meine Freundin steht in der Schlange vorm Bratwurststand. Gabriele Frydrych
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