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berliner szenenEin Kanne Lavendeltee lang

Mit jedem Tag dreht sich die Welt schneller. Die beklopptesten Typen des Universums sitzen gerade an ziemlich langen Hebeln. Man mag kaum mehr Nachrichten einschalten abends, weil direkt wieder etwas Neues irgendwo los ist, von dem es im Anschluss eine Sondersendung gibt. Die ich mir natürlich wieder angucke, weil ich das alles nicht glauben kann. Abends liege ich dann im Bett und nehme mir fest vor: Morgen guckst du aber mal wirklich nichts an! Das haut dich sonst noch um. Bis dann am nächsten Tag wieder was ganz Ungeheuerliches passiert ist, bei dem man sich fünfzig Mal kneifen möchte. Heute kurz vor Mitternacht mache ich eine Körperreise und schiebe sämtliche Gedanken so weit raus in den Berliner Nachthimmel, wie es nur geht. Fühlt sich gut an – bis zu dem Moment, als mir der amerikanische Präsident irgendwo aus dem Off einen Deal vorschlägt. Am nächsten Tag beschließe ich, in die Offensive zu gehen: Abends kommt Torsten auf ein Bier vorbei. Ihm geht es ähnlich wie mir. Vorsorglich stellen wir das Bier zur Seite und machen uns eine Kanne Lavendeltee. „Ich hab neulich geträumt, die Weidel würde mich dazu zwingen, in Friedrichshain AfD-Plakate aufzuhängen“, sagt er. „Auch nicht schön“, erkläre ich, und wir verdrehen die Augen. „Lass uns doch einfach was ganz, ganz Harmloses gucken“, schlägt er vor. „Irgendwas, als die Welt noch in Ordnung war. Zumindest gefühlt.“ „‚Liebling Kreuzberg‘?“ „Gab’s bei uns erst nicht. Bei uns lief ‚Alfons Zitterbacke‘.“ Ich stelle eine Packung Salzstangen auf den Tisch. Torsten macht uns einen Teller Apfelschnitze. Dann sehen wir uns zwei Stunden lang Sandmännchen an. Mal die Ost-, dann die Westversion. Immer schön im Wechsel. Die Welt eine Kanne Lavendeltee lang draußen lassen. Es ist wunderbar.

Jochen Weeber

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