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berliner szenenWo ist nur der Gähner hin?

In der Otto-Suhr-Siedlung in Kreuzberg gibt es einen notorischen Gähner. Er wohnt direkt über mir. Zunächst habe ich mir nichts dabei gedacht, als ich draußen saß. Gähnt halt einer.

Mein Balkon ist vielleicht zwei Quadratmeter groß. Darauf findet ein Stuhl Platz, darauf ich. Für mehr reicht es nicht, aber mir reicht das vollkommen. Es ist meine kleine Höhle: zum Runterkommen vom Arbeitstag, zum Runterglotzen vom Balkon. In dieser Siedlung sieht alles gleich aus, die Hausfassaden haben denselben Anstrich, ein Mintgrün, und die Fensterrahmen auch, ein leuchtendes Rot, und alle haben diese markanten Balkone mit ihren Klinkersteinen. Der Ausblick ist, als ob man in den Spiegel blickt: dasselbe noch mal. Gegenüber sitzt einer, der wie ich aussieht und auch ein bisschen runterkommen und runterglotzen will.

Es wäre so friedlich. Wenn der Gähner nicht wäre. Jeden Abend, ausnahmslos, ertönt sein Gebrüll vom Balkon darüber. Es ist ein überzeugtes Gähnen. Und sehr laut. Wer gähnt denn bitte laut? Es ist doch kein Niesen, das einem mal rausrutscht. Ein lautstarkes Gähnen, das ist doch provokativ! Wem möchte er seine Erschöpfung so unbedingt demonstrieren?

WÜÜÜAAAARRRHH. Jeden Abend. Warum? Ist das Reviermarkierung, ist das Imponiergehabe? Statt bei Sonnenaufgang zu krähen, bei Sonnenuntergang zu gähnen? Je-den Abend. So viele Abende sind vergangen, dass ich schon darauf warte! Ich warte darauf, wütend zu werden. Und müde.

Neuerdings beruhigt es mich. Es ist wie dieser Glitzerstaub des Sandmännchens. WÜÜÜAAAARRRHH macht es und meine Augen ganz schwer. Es ist schon spät. Wo bleibt der Gähner? Ist er verreist? Ihm wird doch nichts zugestoßen sein?

Ich habe kein gutes Gefühl. Ich werde die ganze Nacht nicht schlafen können.

Lars Widmann

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