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berliner szenenIn Alt-Tempelhof mit Alanis

Montagfrüh in meiner Orthopädiepraxis: Es läuft Musik von der kanadischen Sängerin Alanis Morissette. Ich stelle mir vor, die Rezeptionistinnen mit den stahlblauen Augen würden eine CD hören. Zuerst denke ich aber, es sei das Radio – einer dieser Sender, die nur Hits spielen und gewöhnlich in Praxen im Hintergrund laufen. Doch dann folgt ein Lied dem anderen, und ich weiß, dass es sich um ein ganzes Album handelt: „Jagged Little Pill“. Das kenne ich auswendig, denn ich hörte es Ende der 90er Jahre ständig an. Zuerst, um meiner ersten Freundin zu gefallen; später, als wir Schluss gemacht hatten, weil es mich an sie erinnerte. Noch später, als ich Liebeskummer hatte und sie vergessen wollte, konnte ich es gar nicht mehr spielen.

Gerade in Berlin, 2025, freue ich mich, Alanis Morissette nach so vielen Jahren erneut zu hören und jedes Wort noch mitsingen zu können. Alle anderen Wartenden scheinen sich nicht für die Musik zu interessieren. Der Mann mit Schirmmütze und das Kind, ebenfalls mit Schirmmütze, das auf seinem Handy Schach spielt; das ältere Paar, das vor mir Zeitschriften liest – sie die Freizeit Revue und er Der Spiegel; der Mann, der ein Rezept abholt, es in seinen Fahrradhelm steckt und geht; die Frau, die vor Schmerzen gegen die Wand weint. Niemand wirkt davon beeindruckt. Wahrscheinlich sind sie noch zu müde, weil es für alle ein Montag ist wie jeder andere. Nur für mich nicht. Nicht nur wegen Alanis Morissette. Heute gehe ich, drei Monate nach der Knie-OP, das erste Mal wieder völlig ohne Krücken – und so unternehme ich auch die Fahrt nach Alt-Tempelhof zu meiner Orthopädin.

Eine der Rezeptionistinnen merkt es plötzlich. „Ohh! Ohne Gehhilfe, bravo!“, ruft sie und applaudiert. Dann weiß ich: Die CD gehört ihr.

Luciana Ferrando

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