berliner szenen: Weniger Geld, mehr Geldbeutel
Im Frühjahr bestellen wir im Haus den Fensterputzer. Manchmal hatten wir ihn auch im Herbst angeheuert, aber das Genöle von „Im Winter ist es eh die meiste Zeit dunkel, keiner sieht den Dreck, Licht kommt so oder so nicht rein“ nahm kein Ende. Jetzt mit der ersten Sonne steht der Termin. Einige überlegen noch in der Frühjahrsputz-WhatsApp-Gruppe, ob er passt, oder fragen „Wie immer 45 Euro pro Wohnung?“. Vor Jahren stieg ich noch selbst auf die Leiter. Beim Wienern der Oberlichter allerdings wurde mir schwindelig, ich sah mich schon wanken, das Agieren und Balancieren mit Eimer, Wischtuch und Zeitungspapier ließ ein sich Festhalten am Rahmen oder Leiterhals nicht zu, und die Lösung schien, lieber staubblinde Fenster als ein Sturz.
Heute morgen positioniert der Handwerker seine Leiter vorm Küchenfenster, setzt einen Eimer mit Wasser und irgendeiner Spüli-Sprit-Tinktur an und witschert mit einem puscheligen Wischer über die Scheiben innen und außen. Ruckzuck kommt der Abzieher zum Einsatz. Von rechts nach links, in Schleifen, und der Blick ist so frei, als hätte ich keine Fenster. Der Mann klingelte um 11:17 Uhr und will nun um 11:42 Uhr aus der Tür. Dazwischen hat er 4 Fenster und eine Balkontür geputzt. „Was kriegen Sie?“ „35.“ Ich krame nach meinem Geldbeutel für besondere Ausgaben, „Leute mit wenig Geld müssen manchmal aus einem 2. Portemonnaie zahlen.“ Das ergibt wenig Sinn, aber er lächelt. Die Euros verschwinden in einem raschelnden Stapel Geldscheine in seiner Brusttasche. Ich texte meinen Preis in die Gruppe und danke der Organisatorin. Beiträge von Nachbar:innen, die freiwillig mehr gezahlt haben, werden mit Herzchen kommentiert, die über Putzstreifen und Spritzer vom Wischwasser und den gewünschten entspannten Durchblick ignoriert.
Silke Mohr
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen