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berliner szenenFahrrad­fahrende Elefanten

Und dann zieht es einem den Boden unter den Füßen fort. Man steht da und hat den Telefonhörer noch in der Hand, minutenlang. Aber den Boden unter einem, den spürt man nicht mehr.

Dies ist eine Szene für die kleine Maria. Sie ist fünf Jahre alt. Sie mag Katzen, Spaghetti, Riesenrad fahren und „Shaun, das Schaf“ schauen, und sie ist die Tochter unserer besten Freunde. Seit vier Tagen liegt sie im Krankenhaus, und genauso lange ist dieses Telefonat nun schon her. Dunkle Gesprächsfetzen in der Leitung, Riesenkrater, in die wir alle fallen, mitten am Nachmittag. Maria ist klein und der Tumor ist groß, und der Schmerz, den wir fühlen, ist größer als alles, was bisher da war. Von jetzt an ist es nicht mehr wichtig, ob sie ein, zwei oder drei Folgen „Shaun, das Schaf“ anschaut, ob sie bereits gestern und vorgestern ein Eis hatte – sie kann soviel Episoden anschauen, wie sie möchte. Sie kann soviel Eis essen, wie sie will. Nichts ist mehr wie zuvor. Am liebsten würde ich mit jedem dieser Buchstaben gegen den Brocken in ihrem Kopf ballern. Am liebsten würde ich dieses Scheißding einfach kaputtschreiben. So lange tippen, bis es weg ist. Doch es wird nicht funktionieren. So etwas schafft Fantasie nicht, so sehr sie sich auch ins Zeug legt.

Im Zimmer ist es einen Moment lang still. Ich sitze bei ihr am Bett in der Charité im 7. Stock und schaue aus dem Fenster. Maria blickt erst eine Weile mit in den Himmel und dann lächelnd mich an. „Schau mal, die Wolke sieht aus wie ein Elefant!“, kichert sie. „Ein Elefant, der Fahrrad fährt!“ Ich kichere eine Runde mit. Ich soll ihr eine Elefantengeschichte erzählen, und zum Glück bin ich da ganz gut drin. Als ich fertig bin, wuschel ich Maria durch die Haare und gehe ein Eis holen.

Im langen Flur stehen ihre Eltern und versuchen, sich irgendwo festzuhalten.

Jochen Weeber

Lesen gegen das Patriarchat

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