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berliner szenenGina kam nicht aus Weißensee

Das Primo-Levi-Gymnasium, die Heinz-Brandt-Sekundarschule, die Stephanus-Grundschule. Alle sind sie mehr oder weniger mit der Pistoriusstraße verbunden. Und jetzt, um Viertel vor acht, ist Rushhour auf dem Bürgersteig. Ich lasse mich vom Strom der Schulkinder mittragen. Das klappt so lange, bis das Mädchen vor mir stehen bleibt und ich ungebremst in sie hineinlaufe.

„Entschuldige“, sage ich. Der Ranzen auf ihrem Rücken ist fast so groß wie sie. Um uns herum laufen die Kinder weiter.

„Warum bist du stehen geblieben?“ Sie zeigt auf die Hauswand. Ich folge ihrer ausgestreckten Hand. „Das ist ein Tag“, sage ich mit langgezogenem Äh. Ich habe diesen Tag schon an anderen Hauswänden in Weißensee gesehen. Er hebt sich von den handelsüblichen Tags ab, weil er in Druckbuchstaben geschrieben ist.

„Was ist ein Tag?“, fragt sie. Ich überlege kurz. „Du kennst doch Hunde“, sage ich dann. Sie sieht mich an, als wolle ich sie auf den Arm nehmen. „Hunde pinkeln an Laternen, Baumstämme, Mülltonnen. Manchmal auch an Autos und an Fahrräder, die an Baumbügeln angeschlossen sind. Sie markieren so ihr Revier. Das ist das gleiche Prinzip. Diesen Tag gibt es noch an anderen Hauswänden.“

„Gina Lollobrigida“, liest sie. Sie spricht das G wie Gold aus. „Die bekommt bestimmt Ärger. Man darf nicht auf Hauswände schreiben.“ „Sie hat das nicht geschrieben“, sage ich. „Woher weißt du das?“ „Sie lebt nicht mehr. Sie ist tot.“ „Oh. Hat sie denn in Weißensee gewohnt?“ „Nein, sie war eine italienische Schauspielerin.“ „Eine italienische Schauspielerin?“ Ich nicke. „Das macht doch keinen Sinn“, sagt das Mädchen. „Nein“, sage ich. „Da hast du Recht.“

Wir sehen auf Ginas Schriftzug wie auf ein Rätsel, während uns Kinder umspülen wie Wasser einen Stein im Fluss. Daniel Klaus

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