berliner szenen: Einfach so aus dem Staub
Die Matratze hatte schon bessere Tage gesehen. Sie war voller Flecken und Zigarettenlöcher. Ringsherum hatte er seine Besitztümer in Tüten und Säcken drapiert, als gelte es, sie einem Publikum vorzuführen. Früh morgens bestand das Publikum aber meist nur aus meiner Person. Ich war stehengeblieben, um zu plaudern. Der Eigentümer dieser ungewöhnlichen Schätze hieß Jochen. Am Fußende der Matratze entdeckte ich eine Einkaufstüte voller Lebensmittel. „Alle abgelaufen“, sagte Jochen. Er lag quer vor mir auf der Matratze und war in einen Schlafsack gehüllt, der nicht den Eindruck machte, als könne er den nächtlichen Tiefsttemperaturen die Stirn bieten. Nur Jochens bärtiges Gesicht schaute heraus. In dem Gesicht qualmte eine Zigarette. „Nee, is nicht kalt, is doch schon Sommer, außerdem heiz ick von innen“, sagte er und zeigte auf eine Wodkaflasche. Seit mehreren Wochen kam ich alle paar Tage an Jochen vorbei, er residierte in einer versteckten Ecke vom Görlitzer Park. Bäume und Sträucher standen dicht beieinander, schirmten ihn ab, auch vor der Witterung: „Schön hier im Grünen, hab ick immer schon von geträumt!“ Ich gab ihm wie üblich etwas Geld und lief weiter.
Das lächerliche Ziel mit diesem Sport überschüssige Pfunde loszuwerden, hatte ich längst aufgegeben. Jetzt lief ich nur noch, um zu laufen und um nach Jochen zu schauen.
Meine Freundin war nicht wirklich begeistert von meiner Begeisterung für Jochen: „Bald zieht er noch bei uns ein“, sagte sie augenzwinkernd. Tatsächlich hatte ich mit Jochen bereits über seine Situation gesprochen. Eines Tages war er plötzlich nicht mehr an seinem Platz. Ich erinnerte mich, dass er Paris erwähnt hatte. Wann habe ich mich eigentlich das letzte Mal einfach so aus dem Staub gemacht?
Henning Brüns
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