berliner szenen: Parolen für die nächsten 800 Jahre
Ich fahre mit dem M29 am Ku’damm los und frage mich, was mit den Wahlplakaten los ist. Wenn es nicht so ernst wäre, könnte ich ständig schmunzeln, denn momentan ist der öffentliche Raum nicht selten nah an der Satire. So wirbt „Volt“ mit „Sei kein Arschloch“. Am Alex stellt die „Partei für schulmedizinische Verjüngungsforschung“ die Frage „Wo willst du in 800 Jahren leben?“. Darunter steht kleingedruckt: „Für schnellere Entwicklung von Medizin, mit der Menschen tausende Jahre gesund leben können.“ Wahnsinn, denke ich, das ist momentan wirklich die dringendste Frage überhaupt. Und dann ein Laternenpfahl mit einer irren Wahlplakat-Troika. „Trau dich Europa“ – „Altern wird wahrscheinlich bald heilbar“ – „Für Maß, Mitte und Frieden“. Die unfreiwillige Komik dieser Kombis im Stadtraum macht mir Spaß und gleichzeitig Angst, weil sie – auch unfreiwillig – den Zustand dieser Gesellschaft spiegelt, denke ich. An der Urania steht ein Riesenplakat „Ampel oder Überholspur“.
Die demonstrative Sinnentleertheit der Wahlkampfparolen erschüttert mich. Darum bleiben bei mir auch keine im Gehirn hängen. Erinnert sich irgendwer an die Wahlkampfparolen der letzten Bundestagswahl? Ich nicht. Vielleicht werde ich mich in zehn Jahren an die Frage „Wo willst die in 800 Jahren leben?“ erinnern, einfach, weil sie so herrlich absurd ist. „Reichtum umverteilen. Armut bekämpfen“ ist als Slogan irgendwie aus der Zeit gefallen und ist vielleicht gerade deswegen der greifbarste, der mir über den Weg läuft.
Die Wahl ist vorbei, in ein paar Tagen liegen all diese Slogans bei der BSR. Der öffentliche Raum wird erlöst von der politischen Propaganda. Und der Blick vom Hochsitz im M29 versenkt sich wieder in den Landwehrkanal, bleibt an den Baumkronen hängen oder geht einfach ins Berliner Nirgendwo. Katja Kollmann
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