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berliner szenenSie können, aber müssen nicht

An der Bushaltestelle steht eine alte Dame mit zwei Einkaufstüten. Sie sieht aus, als würde sie frieren: Sie zieht ihren Schal über ihren Kopf und holt ein Paar Lederhandschuhe aus der Handtasche. Es ist 19 Uhr. Die BVG streikt seit den frühen Morgenstunden. Ich habe auf meinen Wegen zur Arbeit und zurück bereits einige ältere Menschen angetroffen, die nichts vom Streik mitbekommen hatten. Um sicherzugehen, dass die alte Dame nicht zu einer Eisstatue einfriert, frage ich im Vorbei­gehen: „Sie warten nicht auf einen Bus, oder?“ Sie schüttelt den Kopf und fragt zurück: „Wo wollen Sie denn hin?“ Ich nenne ihr die Haltestelle.

Als ich gerade weiterlaufen will, um nach insgesamt drei Stunden Joggings von A nach B und B nach C, bei dem ich ständig an den Film „Lola rennt“ denken musste, schnellstmöglich zu Hause die Füße hochlegen zu können, sagt sie: „Da muss ich auch hin. Mein Schwiegersohn kommt gleich – wir nehmen Sie mit.“ Ich zögere: „Ich kann laufen. Es ist doch nicht mehr weit.“ Sie winkt ab: „Papperlapapp. Sie können. Aber Sie müssen nicht. Nicht allein im Dunkeln.“

Sie erzählt, wo sie wohnt, und wir stellen fest, dass wir in derselben Straße leben. Ihr Schwiegersohn wirkt gar nicht erstaunt, statt einer gleich zwei Wartende an der Bushaltestelle vorzufinden.

„Sie ist meine Nachbarin“, erklärt die alte Dame, als er die Autotür öffnet. Ich lächle: „Das haben wir gerade erst festgestellt. Wir haben uns davor nie gesehen.“ Die alte Dame nickt: „Oder wir haben uns gesehen, aber nicht wahrgenommen.“

Beim Aussteigen vor meinem Haus fragt sie, in welchem Stock ich wohne. Ich zeige ihr das Fenster meiner Wohnung. Sie deutet auf ein Fenster im Haus gegenüber und meint: „Wir gucken ja genau aufeinander! Da können wir uns doch jetzt ab und an winken.“ Eva-Lena Lörzer

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