berliner szenen: Von schlicht zu fröhlich dekadent
Nach dem neuen Film von Wim Wenders, der von dem schlichten, aber glücklichen Leben eines Toilettenreinigers in Tokio handelt, beschließen mein Freund und ich vor dem Delphi Filmpalast, auf einen Absacker schräg gegenüber in die Bar zu gehen. Statt Austern und französischem Wein bestellen wir zwei Fassbier. Wenders’ Protagonist hätte es bestimmt nicht anders gemacht. Neben uns stößt ein älteres Paar mit Sekt (oder Champagner?) an und anschließend macht sich die Frau an einen Salat, der nur aus Chicorée zu bestehen scheint.
Am linken Nebentisch geht es ein bisschen lauter zu. Zwei Frauen und ein Mann, alle so um die dreißig, haben gerade eine Flasche Weißwein vertilgt und sind schon etwas angetrunken. „Tilo, noch einen Wein?“, fragt die eine Frau. „Ich mag die alle nicht“, meint Tilo. „Wie wär’s mit einem Sancerre? Oder einem Chardonnay?“, fragt wieder sein Gegenüber. „Ach, egal, dann nehmen wir einen Pouilly-Fuissé!“, ruft sie schon fast. „Was machst du so?“, fragt die andere Frau diesen Tilo. „Chillen“, antwortet der.
Ich schaue wieder zum rechten Nebentisch. Da wird ein großer Teller Austern aufgetischt und eine Flasche Rotwein entkorkt. Ich möchte gerade einen Gedanken über den Film mit meinem Freund teilen, da geht es plötzlich am linken Nebentisch um eine „Multisex-Party“, die gerade im Berghain stattfinden soll.
Als ein junger Typ in punkig-engen Klamotten vorbeikommt, meint die eine Frau vom Nebentisch: „Der geht da bestimmt hin.“ „Hey“, ruft sie ihm hinterher, „gehst du heute ins Berghain?“ Der Typ bleibt stehen, überlegt kurz. „Ja, vielleicht morgen früh. Vielleicht schlaf ich bis dahin auch nicht.“ Ich ordere die Rechnung und bin auch nicht mehr verwundert über die sechs Euro irgendwas, die hier ein 0,4-Liter-Bier kostet. Eva Müller-Foell
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