berliner szenen: Klischees revidieren im Konzert
Ob die Dame im Parkett weiß, was sie erwartet? Vielleicht ist sie der Empfehlung eines Reiseführers gefolgt, der das erlesene Kammermusikprogramm des Boulez Saal lobt. Sie ist etwa so alt wie die Künstlerin, 76, optisch allerdings das Gegenteil: Ihre braun-beige gestreifte Seidenbluse ist perfekt gebügelt, das schüttere Haar sorgsam geföhnt. Patti Smith dagegen: lange graue Haare, wild bis auf zwei geflochtene Zöpfchen, ein weites T-Shirt unter Weste und Jackett geknautscht. „This is for Daniel“, beginnt sie den Abend, leise, balladenartig, wunderschön. Sie singt von Wind und Wasser, findet den berührenden Rhythmus eines Gedichts von Paul Verlaine, widmet das nächste Stück einem anderen Verlaine, dem verstorbenen Freund Tom, Gründer der Band „Television“. Ihre Sehnsucht nach Frieden spiegelt sich in allen Songs, es braucht keine Erklärung zu Krieg und Terror, schon gar nicht in diesem Haus, das mit seinem israelisch-arabischen Divan Ensemble Herausragendes leistet. Musiker der Akademie standen eben nach der Probe noch vorm Haus und zeigten sich Nachrichten.
Patti Smith strahlt Zuversicht aus, liebevoll, wenn sie an die verstorbenen Freunde erinnert, zugewandt, wenn sie ihre Band vorstellt, lachend, wenn sie den offen stehenden Reißverschluss ihrer Hose schließt. Ihr einziger Appell heute: „Use your voice“. Sie wirkt frei in ihrer entspannten Körperhaltung und bedankt sich bei ihrem Freund Daniel Barenboim für die Einladung zu diesem Konzert. Er war also eingangs gemeint – ich hätte nicht erwartet, dass der Chef des Hauses andere Musik als seine klassischen Favoriten schätzt. Und noch ein Klischee in meinem Kopf ist zu revidieren: Die Dame in der adretten Bluse ist die Erste, die zu den Songs groovt und die Faust reckt zum Schlusstitel: People have the Power. Claudia Ingenhoven
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