berliner szenen: Rolle vorwärts mit Überschlag
Auf dem Weg zum Bahnhof gehen wir am frühen Morgen mit schwerem Gepäck den Hügel hoch; also eigentlich ist es mehr’ne Brücke, genau genommen die Warschauer Brücke, wenn man denn unbedingt so ein krümelkackerischer Geografie- und Architekturnerd sein will, der alles besser weiß, wie üblich auf Kosten von emotionaler Intelligenz und zwischenmenschlichen Skills.
Auf ungefähr halber Höhe des Bergs, da, wo links die ganzen Imbissbuden sind, kommt aus einem dieser Fressläden ein Typ gerannt, bückt sich im Laufen, und greift nach einem auf dem Gehweg liegenden Portemonnaie. Dabei überschlägt er sich, allerdings überaus gekonnt und kontrolliert und kullert etwa zwei Meter den Hang herab, ehe er direkt aus der Rotation heraus federnd aufspringt und weiter den Bürgersteig hinabläuft. Man hat fast das Gefühl, er hat Spaß an der Nummer.
Er ist aber auch so ein Ringertyp, türkischstämmig, klein, rund und kräftig, wo man dann versteht, warum die Türkei so eine große Ringernation ist. Denn er ist schon allein kraft seiner Konstitution hochelastisch, strapazier- und rollfähig. Nach knapp fünfzig Metern hat er den Typen erreicht, der vorher offenbar sein Portemonnaie vor dem Imbiss verloren hat, überreicht es ihm, und wetzt, ohne groß Dank abzuwarten, wieder bergauf, zurück an seinen Arbeitsplatz.
Aber da ich schon mal bei gewagten Zuschreibungen bin: Das passt natürlich überhaupt nicht in unsere Kultur, dass sich da einer buchstäblich überschlägt, um einem völlig Fremden die verlorene Habe hinterherzutragen. Anstatt sie einfach einzuschieben und in Kartoffeln, Schnaps und Straßendirnen umzusetzen. Wer sich diesbezüglich nicht anpasst, ist „in unserer Gesellschaft niemals richtig angekommen“ und wird das leider wohl auch nicht mehr tun.
Uli Hannemann
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