berliner szenen: Gyulai Kolbász bei Oma
In der Ringbahn sitzt mir ein besonderes Paar gegenüber. Sie sind um die 70 und sehen aus wie aus der Zeit gefallen. Der Mann ist klein und trägt einen zu großen Anzug, dazu einen Hut. Er hat ein energisches Kinn und redet unentwegt auf vermutlich Ungarisch auf die Frau ein, die in ihr Handy sieht und nicht reagiert. Er wird immer ungeduldiger, macht Pausen, setzt wieder an und nimmt den Finger zur Unterstreichung seiner Worte. Die Frau sieht durch eine kleine Nickelbrille weiter in ihr Handy. Sie hat graue Locken bis zum Kinn und ist dunkel angezogen. Ich überlege, ob sie von einer Beerdigung kommen.
Neben mir an der Tür hockt ein Mädchen auf ihrem Rucksack. Sie ist vielleicht dreizehn, trägt eine Jeans und offene Wanderschuhe, hat Haare bis zur Hüfte und lernt aus einem Stapel Karteikarten Vokabeln. Sie murmelt Wörter vor sich hin, schiebt die Karte unter den Stapel, liest die nächste, murmelt etwas und überprüft es auf der Rückseite. Der energische Mann sieht das Mädchen manchmal an, bevor er weiter auf seine Frau einredet.
Jetzt sagt er etwas, das die Frau ärgert. Man kann es sehen. Sie lässt das Handy sinken, funkelt ihn an und zischt einen kurzen Satz. Danach ist er still.
Das Mädchen sieht nun auch zu den beiden herüber. Dann steht sie auf, packt ihre Karteikarten in den Rucksack und sagt zu den beiden: „You come from Hungary?“ Der Mann und die Frau nicken. „My grandparents come from Hungary“, sagt das Mädchen. Dann sagt sie stockend und etwas überlegend: „When I visit, I eat Gyulai Kolbász. The sausage.“ Die beiden Alten lächeln und freuen sich. „Yes, yes“, sagen sie erfreut und wiederholen „Gyulai Kolbász“. Ich glaube, ihr Englisch ist nicht so gut. Das Mädchen winkt zum Abschied und geht.
Das alte Paar hat aufgehört zu streiten. Isobel Markus
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