piwik no script img

berliner szenenMit Radeks Augen sehen

In der S-Bahn ist es angenehm leer. Ich sitze in einem der Dreiersitze und beobachte den kleinen Hund, der zu Füßen einer Frau neben mir sitzt und putzig zittert. Sogar seine Nase bebt. Ein älteres Paar betritt die Bahn. Sie hat sich bei ihm untergehakt, trägt eine große Sonnenbrille, die irgendwie unpassend wirkt, und einen braunen Mantel. Er ist klein mit Glatze und Vollbart und hat flinke Augen.

Sie setzen sich mir gegenüber, die S-Bahn fährt an, und sie sagt zu ihrem Mann: „Radek, was siehst du?“

„Ich sehe eine Frau mit einem kleinen weißen Hund, der zittert. Der Hund ist so groß wie deine braune Handtasche, er hat kurze Locken und ein rotes Halsband. Sein Mensch ist eine Frau. Sie hört Musik mit Kopfhörern, die wie Micky-Maus-Ohren aussehen. Sie hat blonde glatte Haare bis zur Schulter und trägt ein rosa Tuch, eine Jeansjacke und blaue Turnschuhe. Weißt du, die mit der weißen Kappe,“ sagt Radek.

„Ach ja“, sagt seine Frau.

Radek sieht mich an, bemerkt meinen Blick und schweigt. „Und was siehst du noch?“, fragt seine Frau da.

„Eine Frau mit einem Pony sitzt neben der Frau mit dem Hund.“ Er zögert, dann sagt er: „Sie kann mich hören.“ Ich muss lachen und sage: „Nur zu, ich finde das interessant.“ Radeks Frau lächelt und Radek sagt: „Sie trägt einen dunkelblauen Mantel, und darunter sehe ich eine bunte Strickjacke in Regenbogenfarben.“

„Ach“, sagt die Frau. Ich lächele. Radek sagt: „Sie lächelt und sie hat braune Augen und eine Brille auf.“

„Eine schwarze weite Hose und dreckige Boots“, ergänze ich.

„Danke“, sagt Radeks Frau und lacht. „Jetzt kann ich Sie sehen.“

Als ich aufstehe, um auszusteigen, zittert der Hund immer noch. Ich sage „Tschüß“. Radek und seine Frau lächeln mich an. Sie sagt: „Einen guten Tag.“ Und den wünsche ich ihr auch. Isobel Markus

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen