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berliner szenenSelbst der Kuchen trägt Tracht

Ich hatte Karten für ein Benefiz-Konzert mit dem Titel „Herz der Ukraine“ gekauft. Im Kammermusiksaal der Philharmonie. Was gespielt werden sollte, stand nicht dabei. In der Philharmonie angekommen ist auf jeden Fall klar, dass es eine sehr ukrainische Veranstaltung werden würde. Mehr als die Hälfte aller weiblichen Besucherinnen trägt Vyshyvanka, traditionell bestickte ukrainische Blusen. Im Foyer gibt es selbstgebackene Kuchen mit blau-gelbem Zuckerguss. Ein Paar in Tracht animierte die Gäste, ukrainische Volkslieder zu singen.

Mein Mann fragt vergeblich nach einem Programm. Schließlich findet er eine Kiste mit Flyern. So erfahren wir, dass das Nationale Präsidentenorchester aus Kyjiw sowie sechs namhafte ukrainische So­lis­t*in­nen auftreten würden. Auf der Rückseite eine lange Liste der geplanten Musikstücke. Mein Mann hat gleich ein paar Flyer großzügig an unsere Sitz­nach­ba­r*in­nen verteilt.

Dann tritt der scheidende ukrainische Botschafter Andryj Melnyk zu einer Begrüßungsansprache auf die Bühne. Ab diesem Zeitpunkt klicken die Handys ohne Unterbrechung, trotz Durchsage, nicht zu fotografieren. Man weiß, dass man in einem ukrainischen Konzert ist, wenn nach jedem Stück das Publikum ukrainische Flaggen schwenkt. Wenn Solisten grundsätzlich standing ovations erhalten. Und wenn am Ende alle aufstehen, um gemeinsam mit dem Orchester die Nationalhymne zu intonieren. Mein Mann ist gegen Nationalstaaten und erhebt sich nur widerwillig von seinem Platz.

Kurz vor Mitternacht sind wir wieder zu Hause. Schnell noch Nachrichten im Deutschlandfunk hören. „Wir spielen die Nationalhymne und danach das Europa-Lied“, sagt die Ansagerin. „Nee, eine Hymne pro Tag reicht“, schnaubt mein Mann genervt, bevor er das Radio ausschaltet.

Gaby Coldewey

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