berliner szenen: Nachts trägt man Pullover
Nord Stream 1 wurde wegen Wartungsarbeiten abgeschaltet. Im Freundeskreis diskutieren wir, wie wir unsere gasversorgten Wohnungen im Herbst gasfrei warm und schimmelfrei halten, was wir kochen und wann wir duschen. Es sind immerhin 16 Grad, aber uns fröstelt schon angesichts kurzfristiger Lösungen wie dicke Vorhänge und Wärmflaschen. Wörter wie Wärmepumpe und Pelletheizung fallen.
„Aber bei alldem“, sagt ein Freund, „jammern wir hier auf echt hohem Niveau, denn wir haben keine Toten zu beklagen und keine Einschusslöcher in den Wänden unserer Wohnungen.“ Wir nicken stumm, aber wir sprechen auch über Menschen, die sowieso schon jeden Tag kämpfen müssen. Menschen, die unter uns leben und drei Jobs hinkriegen müssen, um nur das Nötigste zu bezahlen. Es braucht praktische Lösungen, denke ich.
Als ich heute mit Mütter, meiner 95-jährigen Großmutter, telefoniere, sagt sie: „Na gut, jetzt wird es wohl ein wenig umständlicher, aber vielleicht macht es uns alle mal etwas demütiger.“ Sie erzählt, dass sie aus dem Keller eine Kochplatte, eine große Schüssel und den alten Wasserkocher hochgeholt hat, den sie noch nicht wegwerfen wollte, nur weil der Schalter einen Wackelkontakt hat. Ich werde einfach Pfannengerichte kochen und mich zum Waschen in die Dusche stellen, aus den Wasserkochern heißes Wasser mit kaltem in einer Schüssel mischen, mich einseifen und abspülen. Das ist wirklich kein Problem. Und nachts trägt man eben Wollpullover unter dicken Decken und schläft mit Wärmflaschen. Außerdem kuschele ich mich an Lehmännchen. Der ist ja seine eigene Heizung.“
Ich lache, während mich eine warme Liebeswelle überflutet. „Wir müssen alle enger zusammenrücken“, sagt sie entschlossen. „Das wäre auch insgesamt angebracht.“ isobel markus
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