berliner szenen: Das verlorene Kind
Die Ringbahn Richtung Westend ist um 2 Uhr nachts leer. Ich scheine die Einzige zu sein, die es noch in diese Richtung zieht, habe den Waggon ganz für mich und ziehe gerade ein Buch aus der Tasche, als ein Mann in letzter Sekunde die Tür öffnet und noch in den Waggon springt.
Er stellt sich genau vor mich, mustert mich kurz und fragt dann: „Englisch?“ Ich nicke. Und schon prasselt es auf Englisch mit starkem polnischen Akzent auf mich ein. Ich bin müde und verstehe nur das: „Ich bin nicht von hier und frage Sie: Was tut man in diesem Land, wenn man ein Kind verloren hat?“ Ich frage zurück: „Sie haben also ihr Kind verloren?“ Er schüttelt den Kopf: „Nein, ich frage Sie: Was macht man hier, wenn man sein Kind verliert?“
Ich muss einen Moment nachdenken und sage dann: „Die Polizei rufen.“ Er schüttelt wieder den Kopf und meint, das habe er gemacht, sie hätten ihn darauf verwiesen, ein Polizeirevier aufzusuchen. Ich nicke: „Das macht Sinn. Man geht in eine Polizeistation und gibt dort eine Vermisstenanzeige auf.“
Er haut sich mit der flachen Hand auf den Kopf und ruft: „Der verdammte Wodka! Alles wegen dem verdammten Wodka!“ Er zeigt auf eine fast leere Wodkapulle in seiner geöffneten Reisetasche und fügt erklärend hinzu: Es sollte eine gute Hochzeit werden.“
Ich sehe ihn irritiert an. Er erzählt, er wolle eine Ukrainerin heiraten und sei mit ihr heute früh bei der polnischen Botschaft in Grunewald gewesen, um Dokumente abzuholen, habe anschließend mit ihr die Stelle gesucht, an der ihre deutsche Großmutter deportiert worden sei, und sie dann, als er kurz eine Toilette suchen wollte, in der Nähe des S-Bahnhofs verloren. „Und wir wollen morgen heiraten. Ich habe ihr Handy, ihren Pass, alles. Sie ist verloren wie ein Kind.“ Eva-Lena Lörzer
40.000 mal Danke!
40.000 Menschen beteiligen sich bei taz zahl ich – weil unabhängiger, kritischer Journalismus in diesen Zeiten gebraucht wird. Weil es die taz braucht. Dafür möchten wir uns herzlich bedanken! Ihre Solidarität sorgt dafür, dass taz.de für alle frei zugänglich bleibt. Denn wir verstehen Journalismus nicht nur als Ware, sondern als öffentliches Gut. Was uns besonders macht? Sie, unsere Leser*innen. Sie wissen: Zahlen muss niemand, aber guter Journalismus hat seinen Preis. Und immer mehr machen mit und entscheiden sich für eine freiwillige Unterstützung der taz! Dieser Schub trägt uns gemeinsam in die Zukunft. Wir suchen auch weiterhin Unterstützung: suchen wir auch weiterhin Ihre Unterstützung. Setzen auch Sie jetzt ein Zeichen für kritischen Journalismus – schon mit 5 Euro im Monat! Jetzt unterstützen