berliner szenen: Sehnsucht nach naiven Zeiten
Vor meiner Eingangstür, in der Sonne, sitzen zwei Lehrer. Sie rauchen und unterhalten sich über den Krieg in der Ukraine. Der eine erzählt, was ihn eine Schülerin gefragt habe: „Ist es nicht verboten, andere Menschen zu töten?“. Er habe keine Antwort gewusst. Er habe die Tränen unterdrücken müssen. Der andere Lehrer sagt nur „Ja, krass …“ Während sie weiterreden, verlieren sie den Schulhof mit den tobenden Kindern gegenüber nicht aus den Augen.
Ich stehe neben ihnen und will den Sonnenschein nicht verlassen, nicht in die Dunkelheit des Homeoffice zurückkehren, auch wenn die Konversation mich traurig macht. Das Geschrei der Schulkinder im Hintergrund erinnert mich an meine erste Zeit in Europa. Aus dem Küchenfenster meiner Freundin in Lyon, wo ich nach dem Ankommen übernachtete, sah man auch auf einen Schulhof. Es war ebenso Frühlingsanfang, und ich hörte das Stimmendurcheinander, während wir schwarzen Kaffee und Baguette frühstückten. Damals glaubte ich noch, Europa sei dem romantischen Bild gleich, das ich aus Büchern und Filme hatte.
Neunzehn Jahre später vor meinem Wohnhaus in Neukölln fühle ich mich plötzlich zurückversetzt in diesen Augenblick. Ich träumte von Abenteuern und Liebesgeschichten, Krieg und Pandemie waren Vergangenheit oder Science-Fiction. Ich war damals voller Erwartungen und spüre eine Sehnsucht nach solchen naiven Zeiten.
In dem Moment bleibt ein älteres Paar Hand in Hand bei den Lehrern und mir stehen. „Wie schön, oder?“, fragt der Mann und zeigt mit dem Spazierstock auf den Himmel. Seine Frau nickt.
Seine hellen Augen scheinen noch heller zu werden. „Ach ja, das ist schön. Wir müssen froh darüber sein. Viel mehr, um sich zu freuen, gibt’s gerade nicht“, sagt er uns, und sie gehen weiter. Luciana Ferrando
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