berliner szenen: Die Damen halten tapfer das Tempo
Eine Freundin arbeitet an einem Film über religiöse Läuterung und Querdenker, die sich die Thesen von Dirk Moses aneignen. Sie schickt mir ein Video vom Alexanderplatz. Ein paar Verzückte tanzen im Kreis und schwenken bunte Fantasiefahnen, aber auch die israelische Flagge ist dabei und die deutsche, auf dem roten Balken steht in goldenen Buchstaben: „Jesus“. Ein Typ bewegt sich schwebend von rechts nach links durchs Bild. Er lächelt wie auf Opium und hält ein Schild hoch: Jesus lebt!
Später laufe ich durch den Park. Die Hitze ist enorm, dennoch ist die Kinderplansche nicht in Betrieb. Einige ältere Damen nutzen die Gelegenheit und tanzen zwischen den Tierfontänen, die sonst Wasser spucken, zu bayerischer Blasmusik eine Quadrille. Sie tragen alle weiße Handschuhe. Es sieht hübsch aus, aber auch ein bisschen surreal, wie sie die Köpfe neigen und sich die Hände reichen. Als ich das nächste Mal vorbeikomme, hat die Musik gewechselt. Aus dem Rekorder dudelt jetzt Ma Baker von Boney M. Die Damen halten tapfer das Tempo, wer schlappmacht, setzt eine Runde aus und erholt sich im Schatten bei einem Schluck Limo.
Neben der Plansche steht ein Mädchen mit ihrem kleinen Bruder. Sie sehen gebannt den Damen zu. Als ich an ihnen vorbeilaufe, rülpst der Junge wie ein Stier. Ich drehe mich um, aber sie starren weiter unverwandt die tanzenden Alten an. Dann tönt aus dem Handy des Mädchens „Just a Gigolo“, aber nicht von David Lee Roth, sondern in der Dschungelbuch-Swing-Version von Louis Prima. „Ciao mamma, siamo al parco, guardiamo una danza delle streghe“, sagt sie sehr ernst in das Telefon. Ich laufe noch einmal vorbei, gespannt, was sie jetzt spielen, Massive Attack vielleicht, aber da ist nur eine Mutter mit ihrem Kinderwagen. Sascha Josuweit
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