berliner szenen: Gartenparty mit Rumbowle
Lockdown-Gymnastik-Nr. 2.534: Wir blättern in alten Stern- und Geo-Ausgaben. Sie stammen aus unserer Kindheits- und Jugendzeit. Damals blickten wir ehrfürchtig auf die auf Plexiglastischen und in Billy-Regalen gestapelten Hefte. Die Frage, ob der Stern linker war als der Spiegel, ist heute schwer zu beantworten. Sicher ist, dass Stern-Herausgeber und Chefredakteur Henri Nannen für Brandts Ostpolitik warb, und Alice Schwarzer und Inge Meysel 1971 im Stern den Schwangerschaftsabbruch propagierten. Später stellte Schwarzer das Magazin unter Sexismusverdacht.
N. sammelt alte Illustrierte wegen der tollen Fotostrecken von Michael Ruetz und Robert Lebeck. Sie bestellt ganze Jahrgänge zum Spottpreis bei Ebay und freut sich, dass täglich der Paketbote kommt. Mir gefällt vor allem die Werbung: Kodak, Schießer, Audi, Telefunken. Menschen und Marken wirken so optimistisch, dem Leben zugewandt. Während der Spiegel 1994 als erstes Newsmagazin online ging und die Leserzahlen explodierten, sank die Auflage des Sterns seit 1998 um 65 Prozent.
Weil wir gerade so schön nostalgisch sind, zeigt mir N. noch ihre Diasammlung. Ein Teil davon stammt von einem kürzlich verstorbenen Weddinger Nachbarn. Auf den Dias sieht man Krippenspiele, aufgenommen im süddeutschen Raum in den 1970ern und 1980ern. Manche Figuren sind lebensgroß, manchmal sind sie gruselig angemalt und wirken wie aus der Geisterbahn. Dann folgen Nacktfotos und Aufnahmen von Gartenpartys mit Rumbowle. Dauernd wird getrunken, geraucht und zuversichtlich in die Kamera gelacht. Wir können uns gar nicht sattsehen. Bald entdecken wir merkwürdige Übereinstimmungen zwischen Wanddekor, Mustern auf Kleidungsstücken und Flaschenetiketten. Das wird am steigenden Blutalkohol liegen. Sascha Josuweit
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