berliner szenen: Farblos, fast vollkommen alterslos
Da war eine Fliege im Aufzug, die mit Alea nach oben fuhr, mit leicht schwankendem, unsicher wirkendem Flug. Alea hatte eben ihr Telefon weggesteckt, als sich die Fahrstuhltür öffnete. 6. Stock. Weder sie noch die Fliege wollten raus, dafür stieg ein Mann ein und nickte ihr entgegen. Der Mann trug Pullover und Schal, in bedeutungslosen Farben, Dunkelblau, Grau, Dunkelgrün, irgendwie so was, dazu eine „medizinische Maske“, und war nach Aleas Schätzung um die 30 Jahre alt. Er schien in diesem Glasturm am Potsdamer Platz zu arbeiten, denn eine Jacke trug er nicht. Sie hätte ihn fragen können oder eine Bemerkung über die Fliege machen können, deren Anwesenheit an einem Wintertag merkwürdig war, oder eine Bemerkung darüber, dass kein Loch zu bemerken war, im Gegensatz zu dem Aufzug in ihrem Wohnhaus, aber der Mann war in die Oberfläche seines Telefons vertieft, sofern man in eine Oberfläche vertieft sein kann. Alea musterte ihn unverhohlen, irgendetwas ging von ihm aus, seine Mittelschichtigkeit, die gewöhnliche Ausstrahlung, das perfekte Braun seiner mittellangen Haare, die sich in einer permanenten Fish-out-of-Water-Position zu befinden schienen, stylish ungekämmt müsste man das wohl nennen, wie sie später zu mir in der Kantine meinte. Männer um die 30, meinte sie: Nerds. Ewige Sechzehnjährige in den entsprechenden, nur unmerklich alternden Körpern. Farblos, in einer fast vollkommenen Alterslosigkeit; es war im Grunde unmöglich, ihr richtiges Alter zu bestimmen. Sie konnten 26 sein, 37 oder sogar schon 43, sie sahen fast immer gleich alt aus. Aber anziehend fand sie ihn doch. Der Fahrstuhl hielt, der Mann nickte ihr noch einmal zu, mit einem Ausdruck von nichts in den Augen, und in Begleitung der Fliege verschwand er in einem ebenso farblosen Flur.
René Hamann
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