berliner szenen: Etwas Stimmung muss sein
Die Klavierstimmerin war da. Irgendwie hat sie es geschafft, mein umzuggestresstes Walnussholzungetüm, das ich einst wegen Singübungen adoptierte, wieder auf Kammerton A zu bringen. Darauf musste ich lange warten. Anscheinend spielen zurzeit alle Klavier, besser: auf gestimmten Klavieren. Was weniger mit einer allgemeinen Verfeingeistigung des Hörapparats zu tun hat als mit Videounterricht. Die Klavierlehrerinnen sehen und hören ihre Schützlinge dabei an den heimischen Klavieren und bekommen fast einen Hörsturz. Die Stimmerin muss her.
Alles wird, so stöhnt diejenige, die sich für mein Klavier geopfert hat, wieder aufgetrimmt. Egal wie sperrholzreif der Kasten sei. Bei neuen Exemplaren komme es zu Lieferengpässen. Das habe ich schon einmal gehört. Ein Dilemma, das sich nur durch eine Nummer größer verkürzen lässt. Eine Freundin hat nicht lange gezögert und ihre ganzen Ersparnisse in einen Flügel gesteckt. Wohnzimmergroß. Seitdem komponiert die gesamte Familie. „Die Leute investieren zurzeit ihr Urlaubsgeld entweder in leinwandgroße Flachbildschirme oder in Klaviere“, meint die Stimmerin. Sie sei komplett ausgebucht. „Etwas Stimmung muss eben sein.“ Ich frage mich, ob die Lage bei Trompeten ähnlich ist. Während des ersten Lockdowns wurde in meiner Straße der dritte Satz der „Mondscheinsonate“ auf dem Klavier und „Bella Ciao“ von einem Trompetenduo gespielt. Letzteres sehr zwischentonreich. Vielleicht wäre Trompetenstimmerin noch ein Geschäftsmodell? Aber zurück zum Klavier. Kürzlich traf ich einen Nachbarjungen und machte ihm ein Kompliment für sein Glenn-Gould-artiges Klavierspiel. Und er: „Freut mich, dass es nicht stört.“ Das hat mich komplett entmutigt. Wenn er schon Angst zu stören hat, werde ich für Albträume meiner Nachbarn sorgen. Astrid Kaminski
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen