berliner szenen: Der Leser von der Haltestelle
Immer wenn ich ihn sehe, liest er. Ich könnte nicht sagen, ob er immer dasselbe Buch liest. Ich fahre schnell mit dem Rad an ihm vorbei und kann mir nicht merken, wie das Buch aussieht.
Er liest abwechselnd an zwei Bushaltestellen am Südstern. Neulich, als es so heiß war, las er ohne T-Shirt. In den kalten Monaten trägt er eine dicke Jacke und eine Decke darüber.
Das Buch hält er ganz nah an seinen Augen und seiner großen Lesebrille. Er hat lange weiße Haaren und ist meiner Einschätzung nach über 70.
Ich bin nicht sicher, ob der Mann an der Bushaltestelle Obdach sucht oder nur tagsüber dort ist und liest. Er liest, als würde er das Buch mit den Augen aufessen wollen, er scheint nichts anders wahrzunehme, als Buchstaben. Er bewegt seine Lippen, als würde er sich die Geschichten selbst vorlesen.
Ich habe oft überlegt, ob ich ihm einige Bücher mitbringen soll. Aber vielleicht liest er ja gern immer dasselbe Buch, immer wieder dieselbe Seite und lernt den Text auswendig. Es könnten Gedichte, Theaterstücke, philosophische Untersuchungen sein. Vielleicht bin ich zu aufdringlich, wenn ich ihn nach seiner Lektüre befrage. Es gibt allerdings ebenso die Möglichkeit, dass er sich gern darüber unterhalten würde, spräche ihn jemand darauf an.
Bisher habe ich noch nie eine andere Person bei ihm gesehen. Und ich gehe auch nicht auf ihn zu. Weil er leidenschaftlich liest, rede ich mir ein, dass es ihm besser geht als anderen Menschen, die in den Berliner Straßen rumhängen.
Doch vielleicht bin ich einfach faul oder mir fehlt der Mut, um mir die Zeit zu nehmen, meine Kopfhörer aus meinen Ohren rauszunehmen und einfach ein paar Worte mit ihm auszutauschen.
„Hallo, wie geht's?“ – „Was lesen Sie so?“ – „Wie gefällt es Ihnen?“. Luciana Ferrando
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