berliner szenen: Jeder wird misstrauisch beäugt
Letzten Dienstag bin ich das erste Mal seit zweieinhalb Monaten S-Bahn gefahren. Bis nach Steglitz. „Vielleicht kriegst du noch mal Begrüßungsgeld“, witzelte Paul. Ich war schon aufgeregt, als ich vor dem S-Bahnhof mein Fahrrad anschloss. Sollte ich die Maske gleich aufsetzen oder erst im Zug? Gilt das Treppenhaus eines S-Bahnhofs als geschlossener Raum?
Auf dem Bahnsteig warten wenige Leute, die meisten ohne Maske. Zwei Jugendliche sitzen nebeneinander auf zwei dieser Einkaufskörbchen, die die früheren Sitzbänke ersetzt haben, und verzehren jeder einen Döner in der einzigen Körperhaltung, in der das möglich ist: Beine breit und Kopf vornüber. Stimmt, denke ich, essen in der S-Bahn geht ja auch nicht mehr.
Als die Bahn kommt, fummeln alle ihre Masken hervor und setzen sie auf, bevor sie einsteigen. Was hatte ich eigentlich zum Mittag, überlege ich. Schließlich muss ich jetzt 30 Minuten lang meinen eigenen Mundgeruch einatmen. Die Dönerjungs tun mir leid. Die Bahn hält, die Türen öffnen sich. Einfach so. Simsalabim. Die erste Hürde wäre geschafft. Aber wie nun weiter? Wo soll ich mich hinsetzen? Links auf den Klappsitzen im Fahrradabteil könnte sich jemand vor mich stellen. Oder sich neben mich setzen. Oberschenkel an Oberschenkel. Rechts hockt in jedem Vierersitz ein Fahrgast, drei Männer, eine Frau, alle mit Maske. Ich setze mich der Frau schräg gegenüber, sie greift panisch nach ihrer Handtasche und rutscht so tief in ihre Sitzecke, dass ich Sorge habe, die S-Bahn könnte draußen eine Delle bekommen.
Ich bin wahnsinnig nervös. Jeder Fahrgast wird misstrauisch beäugt. Als würde ich schwarzfahren. Als hinter mir ein Fahrrad umfällt, erschrecke ich fast zu Tode. Ich atme zu schnell unter der Maske. Begrüßungsgeld gab’s keines. Lea Streisand
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