berliner szenen: Was für eine wunderbare Person
Es muss sehr lange her gewesen sein, weil damals der kleine Teich des Volksparks am Weinberg im Winter so gefroren war, dass man darauf eislaufen konnte. Ich wohnte damals in der Nähe und mochte es, die kältesten Stunden des Tages in der Philipp-Schaeffer-Bibliothek zu verbringen.
Dann ging ich zum Park, um frische Luft zu schnappen und die spielenden Menschen am Teich zu beobachten. An einem dieser Tage kam eine junge Frau zu mir und fragte, ob sie mich etwas fragen dürfe. Ich nickte, sie zog ein Bild aus ihrer Tasche und zeigte es mir. Alles, was mir spontan einfallen würde, wenn ich das Bild – das Porträt eines jungen Mannes – ansehe, wollte sie wissen. Ich ließ mich auf das Spiel ein und geriet sofort in einen Konflikt mit mir selbst. Wie kann ich jemanden beschreiben, den ich gar nicht kenne, ohne auf Vorurteile zurückzugreifen, die sich aus seinem Äußeren ableiten?
„Langweilig“, kam mir als Erstes in den Kopf. „Normal.“ Doch ich traute mich nicht, das zu sagen, und sagte stattdessen etwas Standardmäßiges wie „er sieht nett aus“.
„Und weiter?“, fragte die Frau, und ich versuchte, kreativer zu sein. Sie nahm auf, was ich sagte, und erst als ich fertig war, erklärte sie mir, dass der Porträtierte ihr Freund sei und es ihm nicht gut gehe. Deshalb habe sie ihm etwas Besonderes schenken wollen: den Beweis, dass alle, sogar wildfremde Menschen, sehen können, was für eine wunderbare Person er doch sei.
Sofort bereute ich meine Gedanken und sagte ihr, das sei das schönste Geschenk, von dem ich je gehört hätte.
Als ich neulich in der Gegend war und Zeit hatte, am Park spazieren zu gehen, erinnerte ich mich wie aus dem Nichts an diese Geschichte. Ob die Frau viele Eindrücke sammeln konnte? Ob es ihrem Freund besser ging? Ob sie auch heute noch zusammen sind?
Luciana Ferrando
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